Ach Deutschland, deine Richter

■ Der Sturm der Entrüstung über das Urteil gegen den Vorsitzenden der NPD, Günter Deckert, ist groß. Und genau das ist das Neue. Denn skandalöse Begründungen in den Neonazi-Urteilen deutscher Strafkammern ...

Der Sturm der Entrüstung über das Urteil gegen den Vorsitzenden der NPD, Günter Deckert, ist groß. Und genau das ist

das Neue. Denn skandalöse Begründungen in den Neonazi-Urteilen deutscher Strafkammern sind keine Seltenheit

Ach Deutschland, deine Richter

Als „einzelnen Ausreißer“ ordnet Peter Marqua, Geschäftsführer des Deutschen Richterbundes, das Urteil ein, das dem NPD-Vorsitzenden strafmildernd zugute hielt, daß es ihm ja darauf angekommen sei, „die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken“. Das Mannheimer Landgerichtsurteil ein Ausreißer? Wohl kaum. Bei einer Fülle von Urteilen in den letzten Jahren kannte die blühende Phantasie, mit der manche Richter den Auschwitz-Leugnern oder rassistischen Straftätern strafmildernde Umstände zugebilligt haben, keine Grenzen – nur die öffentliche Kritik blieb fast immer aus.

So verurteilte das Münchner Amtsgericht den führenden Auschwitz-Leugner, den Deutsch- Kanadier Ernst Zündel, im Dezember 1991 nur zu einer Geldstrafe wegen Aufstachelung zum Rassenhaß. Strafmildernd wertete das Gericht, daß die „Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit so gefestigt“ wären, daß „vom Angeklagten und seinen Mitstreitern keine ernste Gefahr“ ausginge. Im Februar 1992 kam in Ravensburg ein 19jähriger Skin, der einen Angolaner erstochen hatte, mit fünf Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz davon. „Wir mußten davon ausgehen, daß die Hautfarbe des Opfers wesentlich zu der Tat beigetragen hat“, begründeten die Richter das milde Urteil.

Im Mai 1992 wurden drei Mitglieder einer rechtsextremen Jugendclique in Bremen nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. Sie hatten einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim verübt. Die Angeklagten hätten mit ihrer Tat lediglich „ein Zeichen setzen“ wollen, hieß es im Urteil. Im September 1992 wertete das Bezirksgericht in Frankfurt/Oder die Jagd auf Antonio Amadeu Kiowa in Eberswalde als „jugendkulturelle Verfehlung“. Den Angeklagten, die den Angolaner zu Tode geprügelt hatten, wurden nicht nur die „allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Umstände kurz nach der Wende“ strafmildernd zugute gehalten, sondern auch „gruppendynamische Aspekte“. Es möge dem einzelnen „schwer gefallen“ sein, dem „Geschehen fernzubleiben“.

Auch die Jugendlichen, die in Hünxe mehrere Brandsätze in das Kinderschlafzimmer der libanesischen Familie Saado warfen, kamen in den Genuß einer atemberaubenden Urteilsbegründung. Die Duisburger Richter konnten keinen Tötungsvorsatz erkennen. Ihr Argument: „Es liegt schwerlich in den Intentionen eines politischen Täters, daß statt einer Solidarisierung mit der Tat in der Bevölkerung ein Mitleidseffekt mit den Opfern erzielt wird. Genau das aber war zu erwarten, wenn Menschen getötet wurden oder Kinder qualvoll verbrannten.“

Es mußte erst der Brandanschlag in Mölln passieren, bei dem in der Nacht zum 23. November 1992 drei Türkinnen ums Leben kamen, bevor die Justizminister den Richtern und Staatsanwälten ans Herz legten, das Werfen von Molotowcocktails endlich als versuchten Mord anzusehen. Dementsprechende Urteile blieben dennoch auch bei schwersten Übergriffen die große Ausnahme.

Rostocker Jugendrichter werteten die Teilnahme an den Pogromen im August 1992 weiterhin als „lediglich symbolisches Aufmucken“. Die Staatsanwaltschaft Frankenthal konstatierte bei sechs Jugendlichen, die ein Flüchtlingswohnheim überfallen hatten, ein „verbrämtes Nationalgefühl“ und ermittelte nur wegen Sachbeschädigung. Das Münchner Amtsgericht sprach den Neonazi Ewald Althans vom Vorwurf der Auschwitz-Leugnung frei. Dieser habe lediglich Zweifel am Holocaust geäußert, und das sei zulässig. Im Februar dieses Jahres sprach das Landgericht Paderborn dann drei Rechtsextremisten frei, die vor einem Flüchtlingswohnheim „Wir wollen keine Asylantenschweine“ gegrölt hatten. Die Angeklagten hätten mit ihren Parolen lediglich eine „verbale Kurzform für das gefunden, was viele Bundesdeutsche meinen, daß nämlich zu viele Ausländer hier leben“.

In Universitätskreisen wird inzwischen offen die Schieflage der deutschen Justiz kritisiert. Monika Frommel, Professorin am Institut für Jugendstrafrecht und Kriminologie in Kiel, konstatiert eine „Gespaltenheit der Justiz“, die „linke Straftaten stark politisiert, Kapitalverbrechen auf rechter Seite aber individualisiert“. Ihr geht es nicht um härtere Strafen und schärfere Gesetze: „Nicht harte Strafen gegen einzelne Sündenböcke, sondern klare Aussagen zu grundlegenden Normen des Zusammenlebens mit Fremden sind gefragt.“ Bernd Siegler