Ein Deutscher der dritten Art

Spielbergs Oskar Schindler – ein zunächst unterkapitalisierter Unternehmer, der in einem vorgefundenen Umfeld von Zwangsarbeit, Arisierung und Massenvernichtung die Ausnahme wird, die die tödliche Regel bestätigt  ■ Von Micha Brumlik

Im Frühjahr 1943 traf SS-Untersturmführer Amon Göth, der sich schon bei der Liquidierung des Ghettos von Lublin einen Namen gemacht hatte, in Krakau ein, betraut mit der Aufgabe, auch dieses Ghetto zu liquidieren, sowie in dem nahebei gelegenen Plaszow ein Zwangsarbeiterlager einzurichten. Das Lager Plaszow bei Krakau war Objekt vielfältiger Interessen und – wie das ganze „Generalgouvernement“ – ein Laboratorium des Ungeistes. Nicht nur zog es die Aufmerksamkeit junger erfolgshungriger Unternehmer wie Oskar Schindler auf sich, nein, auch gleichaltrige Wissenschaftler aus dem Reich wollten dort ihr Glück machen. So unterhielt z. B. das „Institut für deutsche Ostarbeit“ im Lager Plaszow eine Dependance. Für dieses Institut erstellte der spätere Nestor der bundesdeutschen Sozialpolitik, Helmut Meinhold, zu genau jener Zeit in Krakau „bevölkerungspolitische“ Expertisen. Die Geschichte Oskar Schindlers ist auch die Geschichte eines zunächst unterkapitalisierten Unternehmers. Ob Schindler sich das Kapital zur Eröffnung seiner Fabrik tatsächlich nur von Juden zusammenborgte oder auch mit Banken verhandelte? Auf jeden Fall hatte sich zu Beginn des Jahres 1939, als Schindler seine Fabrik eröffnete, längst die „Deutsche Bank“ in Krakau niedergelassen und bis 1940 ihre Geschäfte dem „Creditanstalt- Bankverein“ Wien übertragen. Zuständig für derartige Konsortialgeschäfte war ein Herr Pollens, verantwortlich für die ganze Abteilung Hermann J. Abs.

An derlei Zusammenhänge muß erinnert werden, wenn anders nicht Steven Spielbergs ergreifender und vielschichter Film einem möglichen Mißverständnis zum Opfer fallen soll.

Dieser ruhige, auf Breitwandformat gedrehte Schwarzweißfilm entwickelt sein Thema – jene Ereignisse, die wir als „Holocaust“ bezeichnen – im Spannungsfeld von drei Personen: dem von Liam Neeson dargestellten Oskar Schindler, dem von Ben Kingsley mit intensivem Ernst gespielten Itzhak Stern und dem sadistischen Lagerleiter von Plaszow, Amon Göth, dem Ralph Fiennes differenzierten Ausdruck verleihen möchte.

Vorgefundener Spielraum

Der brutale Sadismus Amon Göths konnte sich ebenso wie das Heldentum Schindlers nur in einem Dispositionsspielraum entfalten, den beide nicht geschaffen, sondern lediglich vorgefunden haben: der politisch verfügten, ökonomischen Ausplünderung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Polens durch das Deutsche Reich. Daß Juden in diesem Rahmen als wesentliche Akteure nicht auftreten konnten, ist nicht dem Film, sondern den Umständen anzulasten. Deshalb auch geht die moralisierende Kritik, daß Juden hier nur als Opfer gezeigt würden und die ebenso moralisierende Antwort, daß Schindler ohne Itzhak Stern nicht weitergekommen wäre, an den wirklichen Schwierigkeiten vorbei.

„Schindlers Liste“ stellt – auf der Basis des Tatsachenromans von Thomas Keneally – den Versuch dar, mit den Mitteln der Narrative, mit der epischen Schilderung des Grauens einer Erfahrung gerecht zu werden, die sich jedenfalls aus der Perspektive der Opfer narrativ überhaupt nicht einholen läßt. Zwar läßt sich die Brutalität der SS, ihre menschenverachtende Handgreiflichkeit, die Erniedrigung der geschundenen Juden, das Plündern von Wohnungen, das wahllose Erschießen von Menschen, das beinahe unerträgliche Verbrennen von Leichenbergen in objektivierenden Einstellungen zeigen. Gewiß läßt sich auch in erstaunlich authentisch wirkenden Bildern, mit bewegter Handkamera, ohne ein Detail auszulassen, aber auch ohne die Würde der nackten Menschen zu verletzen, der Prozeß der Selektion, der immer von Hast und Hetze begleiteten totalen Erfassung auf dem Appellplatz abbilden, lassen sich die Insignien der „Endlösung“: immer wieder Schreibmaschinen, Stempel, Schienen und Eisenbahnen so ins Bild setzen, daß der bürokratische Charakter dieses Massenmordes unübersehbar wird. Wie aber will man der Tatsache gerecht werden, daß die Opfer in diesem Prozeß vor allem mit einer „Gegenrationalität“ (D. Diner) konfrontiert waren, mit scheinbar einsichtigen – hier ökonomischen – Handlungsschemata, die, hielt man sich nur präzise an sie, lebensrettend wirken könnten. Den meisten Rüstungs- und Zwangsarbeitern im ökonomischen Imperium der SS half weder Fleiß noch Präzision. Aller Anstrengung, allen Erfordernissen der Kriegsführung zum Trotz wurden sie früher oder später, nachdem ihnen das letzte Gran Arbeitskraft ausgepreßt worden war, ermordet.

Dem unauflöslichen Widerspruch zwischen einer subjektiven Rationalität des Handelns und der objektiven Maxime der Nationalsozialisten, so viele Juden wie möglich umzubringen, entsprachen bisher nur wenige Filme.

Keineswegs ist „Schindlers Liste“ der erste Film, der dies Problem angeht. Gewiß: Weder der Fernsehvierteiler „Holocaust“ noch etwa Joseph Loseys „Monsieur Klein“ sind dieser Thematik wesentlich näher gekommen, doch sei nicht vergessen, daß der alte Defa-Film „Jakob der Lügner“ diese Frage ebenso aufgenommen hat wie etwa die ältere deutsche Fernsehproduktion „Ein Tag“.

In Spielbergs Film freilich wird es endlich ausgesprochen. Als Schindler während eines Besuchs im Hause Göths im Keller mit der geschundenen Helene Hirsch spricht, gesteht sie ihm, daß das Schlimmste von allem die völlige Regellosigkeit Göths sei. Wir hören dies während einer Großaufnahme, in einer von eigentümlichem Licht durchfluteten Szenenfolge, in der Schindler der verängstigten Frau einen Kuß auf die Stirn drückt – ein authentischer Vorfall, der aber die Metamorphose der Filmgestalt zum Halbgott vorbereitet.

Schließlich und vor allem handelt es sich nämlich um einen Spielfilm, von dem wohl stimmen mag, daß er auf lange Zeit ohnegleichen bleiben werde. Aber auch dieser Film als optisches Medium mit meist narrativer Grundstruktur wird sich früher oder später der Frage stellen müssen, wieweit das Unvorstellbare wirklich gezeigt werden kann. Dabei sind subjektive Einschätzungen unvermeidlich. Mir jedenfalls schien, daß der erste Teil des Films, die Bilder und Szenen aus Krakau und Plaszow die Ereignisse so zeigten, wie sie tatsächlich hätten aussehen können.

Dokumentarisch sehen

Daß wir diese Vergangenheit dank des beinahe ausschließlich schwarzweißen Fotomaterials schwarzweiß und das heißt in gewisser Weise dokumentarisch vor uns sehen, ist das eine, daß das Schwarzweiß eine dem Geschehen angemessene düstere Grundstimmung evoziert, das andere. Auf jeden Fall sind Zwangsarbeiten, Erschießungen, Ereignisse, die im Rahmen eines „Wohnbezirks“ spielen und aus größerer Distanz, gezeigt werden, mit unseren üblichen Wahrnehmungsgewohnheiten noch vereinbar.

Die Erfahrung überfüllter Viehzüge, die „Entlausung“, der Gang ins Gas hingegen, die Spielberg mit ebensoviel Takt wie Sinn für Suspense inszeniert, verweigerten sich bisher dem Medium des Spielfilms. Das Ziel, historischen Nachvollzug mit so wenig Schocks wie möglich, das Bestreben, Mitleid ohne übermäßige Drastik zu erzielen, mag erreicht sein – freilich auf Kosten der historischen Wahrheit. Das hat Steven Spielberg selbst eingeräumt und wohl mit vollem Bewußtsein Abläufe verkürzt und gemildert. Er hat anstelle von ausgemergelten Gesichtern wohlgenährte gezeigt, anstelle der Kahlrasur der Frauen in Auschwitz lediglich Kurzhaarschnitte inszeniert, das Eintätowieren der in Auschwitz-Birkenau zunächst lebensrettenden Nummern übergangen und die Mitteilung, daß es sich um „Schindlerjüdinnen“ handele, den Opfern beim Appell überlassen, anstatt es – wie in Keneallys Buch – den Aufsehern zuzuschreiben. Daß die Kamera schließlich den nackten Menschen in die Gaskammer folgt und nach klammen Sekunden, die niemanden unberührt lassen können, ein Duschen in gleichsam lebensspendendem Wasser vorführt, ist womöglich das Äußerste, was ein Spielfilm zeigen darf.

Film als Denkmal

Spielberg konnte der Versuchung, den Film über die eigentliche Geschichte hinaus zu einem Denkmal zu machen, nicht widerstehen. Sein Oskar Schindler erscheint vor allem im zweiten Teil des Filmes so, wie er wohl vielen, die er gerettet hat, erschien: als Halbgott. Die undurchsichtigen, stoischen Züge Liam Neesons in den vielen Großaufnahmen, die entsprechende Verehrung, die ihm als Betreiber des „absolut Guten“ entgegengebracht wird – wie Stern in einer zentralen Szene seine Liste bezeichnet –, weisen den Schindler des Films als Wesen aus einem anderen Kosmos aus. Dabei war er durchaus nicht nur ein unerfindlich guter Mensch, sondern ein zeitweise bewußter politischer Akteur, der im Spätherbst 1942 in Ungarn Kontakt mit zionistischen Emissären hatte und sie über die Wirklichkeit des Mordens aufklärte.

Der in einer der letzten Szenen des Films gezeigte Zusammenbruch, Schindlers Klage, nicht mehr Menschen gerettet zu haben, ist so nicht berichtet – der Halbgott bedarf im Film selbst des Trostes und der Vergebung.

Wo Hoffnung ist, ist Farbe – in den letzten Einstellungen werden die Zuschauer gerührt Zeugen eines jüdischen Gedenkritus in Jerusalem, wo ein Teil der inzwischen hochbetagten Überlebenden und ihre Nachkommen Steine und schließlich eine Rose auf Schindlers Grab legen. Der Film endet in einer Apotheose Jerusalems, unterlegt von einem Song, der in Israel kurz vor dem Sechstagekrieg geschrieben und zum Motto der wiedervereinigten Stadt wurde. Wer wollte sich anmaßen, derlei als Kitsch zu bezeichnen? Filme haben nun einmal – anders als das wirkliche Leben – ein Happy-End.

„Schindlers Liste“ ist ein Film Steven Spielbergs, und Oskar Schindler war nun einmal – in seinem Kontext – tatsächlich ein Wesen aus einer anderen Welt.

„Schindlers Liste“. Regie: Steven Spielberg. Buch: Steven Zaillian. Kamera: Janusz Kaminski. Mit: Liam Neeson, Ben Kingsley, Ralph Fiennes, Caroline Goodall. USA, 1993