Leuchtendes Prisma

Die Ausstellung „Kristallisationen, Splitterungen“ im Werkbund-Archiv des Gropius-Baus breitet eine Ideengeschichte des Kristalls aus  ■ Von Martin Kieren

Das Glashaus des Architekten Bruno Taut, ausgestellt beziehungsweise gebaut auf der Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln, gilt längst als eine Inkunabel der modernen, der expressionistischen Architektur. In diesem Bau, in diesem Prisma, einem Zwitter von Urhütte und kristalliner Abstraktion, verdichten sich verschiedene Momente der Zeit- und Raumauffassung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Philosophie und moderne Erkenntnisse der Physik wurden hier ebenso verschmolzen wie zeitgenössische Architekturtendenzen und akrobatische Konstruktionsmethoden.

Taut selbst betonte, daß sich das Gebäude dem Besucher nur prozessual und fortschreitend, nicht aber als Ganzes erschließen könne. Eine komplizierte Bewegungsschlaufe, ein vorgegebener Weg wurden gleichsam dramaturgisch durch dieses erste begehbare Prisma der Weltanschauung gelegt. Sechs voneinander geschiedene Raumabschnitte mußten – an einem leuchtenden Wasserfall als Entrée vorbei – durchschritten und durchmessen werden: die in der ersten Verschalung aufwärts führenden Treppen, der Kuppelraum, die in der zweiten Verschalung abwärts führenden Treppen und schließlich die ineinander übergehende Folge von Ornament-, Kaskaden- und Kaleidoskopraum.

Als räumliche Abfolge waren diese thematischen Raumkörper aber nicht überschaubar, da sie sich erst über ein kompliziertes und komplexes System von Sinn- Beziehungen erschloß. Es war aber auch kein Gebäude als Prototyp intendiert, es sollte nicht ein Haus als Analogie zu anderen schon vorhandenen Häusern gebaut werden – sondern genau diese Verschränkung von raum-zeitlichen Bezugssystemen war Anlaß und einziger Zweck dieses Ausstellungspavillons.

Betörend beschreiben die Zeitgenossen vor allem die Lichtführung und das stark farbige Glas, das dieses Licht reflektierte, verstärkte und sphärisch zum Klingen brachte. In diesem sphärischen Gedanken, in der msytischen Gedankenwelt des Expressionismus muß denn auch die eigentliche Ausstrahlungskraft des Glashauses gelegen haben. Wahrscheinlich würden wir es heute mehr mit Gleichmut denn mit Bewunderung oder Staunen betreten.

Der Berliner Dichter Paul Scheerbart, Expressionist und zeitlebens bastelnd an einem Perpetuum mobile, steuerte die Sprüche zu diesem Hause bei, angebracht als Schriftgirlande außen an dem Haus, zwischen Sockel und aufsteigendem Prisma: „Das bunte Glas/ zerstört den Haß“ oder „Ohne einen Glaspalast/Ist das Leben eine Last“ stand dort zu lesen. Es war ein programmatischer Bau, das eine neue Architekturperiode ankündigen sollte.

Die Ausstellung des Werkbund- Archivs in der oberen Etage des Martin-Gropius-Baus hat nun dieses Glashaus zum Ausgangspunkt für eine kleine Ideengeschichte des materialisierten Kristalls gemacht. Ein Modell dieses gebauten Prismas im Maßstab 1:20, 70 Zentimeter hoch, wurde hier mit allerlei dramaturgischen, musikalischen und Lichteffekten gleichsam inszeniert. Um die komplexe Raum- und Lichtführung auch nur halbwegs nachvollziehen zu können, wurde der entsprechende Ausstellungsraum mit gleißend weißen Stoffen drapiert, und jede Stunde wird mit Musik und farbigem Licht das Haus umschwebt und bestrahlt. Durch eine Öffnung kann man in das Innere des Hauses schauen, und man zollt dem Modellbauer großen Respekt für diese knifflige Leistung, mit der er noch das kleinste glitzernde Detail rekonstruiert hat.

Aber nicht das Glashaus allein wird hier gezeigt. In den anderen Räumen bietet sich je der Anblick eines kleinen Labors. In eigens hergestellten, gläsernen, „kristallinen“ Vitrinen werden die von den Ausstellungsmachern gesammelten Fundsachen zum Thema Kristall, Kuppelkonstruktion, Blüte, Licht und Architektur gezeigt.

Aber alle diese „Themen“, die das Haus – als verdichteter Kosmos – umkreisen, sind ebenso kaleidoskop- und prismenartig arrangiert wie die gewaltige Kuppel des einstigen Glashauses von Bruno Taut. Man wird nicht eigentlich logisch oder zeigefingernd auf die Pläne des Pavillons verwiesen, auf die Blütenfotografien von Karl Blossfeldt, auf diverse Bücher oder auf jene Gegenstände, die dem Kristall verwandte Formen aufweisen. Im Gegenteil: man muß und man kann sich in dieser Ausstellung auf eine kleine Entdeckungsreise begeben, man kann den verschiedenen Spuren folgen, die in den Räumen durch ein unsichtbares Netz einen Ideenteppich weben.

Eine Videoinstallation gibt einem zum Beispiel die Möglichkeit, das Gebäude zu durchschreiten, um in sein Geheimnis vorzudringen. Oder man erlebt die Metamorphosen des Glashausgedankens vom Fesselballon über provencalische Heuschober und arktische Iglu. Man wird mit gotischen Gewölbekonstruktionen ebenso konfrontiert wie mit Goethe, dem Lunapark und der Offenbarung des Johannes. Das geschieht alles auf ruhige, heitere und doch sehr interessante Weise. Es ist ein Spiel, das man gar nicht immer und überall durchschauen muß und will.

Die Ausstellung wie der schön gemachte und aufschlußreiche Katalog folgen somit der kaleidoskopischen Struktur der Welt – in ihr der Mensch, in diesem Fall der Ausstellungsbesucher, mit wilden Assoziationen und einer optischen, die Sinne betörenden Wahrnehmung. Ein kleines, wissenschaftliches Vergnügen.

„Kristallisationen, Splitterungen – Bruno Tauts Glashaus: Köln 1914“. Bis zum 16. Januar 1994 im Werkbund-Archiv, Martin-Gropius-Bau, Stresemannstr. 110, Di.–So., 10.–16 Uhr.

Im Birkhäuser Verlag Berlin ist ein reich bebilderter Ausstellungs-Katalog erschienen.