Die erste Hälfte eines Lebens

Der Maler des „Synthetischen Musikers“, Iwan Puni, in einer Retrospektive der Berlinischen Galerie  ■ Von Martin Kieren

Im Jahr 1992 legte die Berlinische Galerie gemeinsam mit dem Museumspädagogischen Dienst Berlin ein Buch vor, dessen „Vorwort vom Glück“ und zwei Aufsätze nur um ein Bild und seinen Maler kreisten: den „Synthetischen Musiker“ von Iwan Puni. Eberhard Roters hatte dieses Bild während seiner Recherchen zur Ausstellung „Avantgarde Osteuropa 1910–1930“ in der Schweiz bei dem Sammler Hermann Berninger entdeckt. Es wurde 1967 in der genannten, für die Stadt Berlin damals ausgesprochen wichtigen Ausstellung gezeigt, ebenso wie 1975 auf der ersten Puni-Retrospektive im Haus am Waldsee. 1987 schließlich war es eines der Glanz- und Vorzeigestücke der Ausstellung „Ich und die Stadt“, die die Berlinische Galerie aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins zeigte.

1988 endlich, zum Ende der Ausstellung, bot Hermann Berninger das Bild der Berlinischen Galerie zu ausgesprochen günstigen Bedingungen an. Verbunden mit dieser Ankaufsmöglichkeit war die Schenkung von drei anderen wichtigen Bildern desselben Malers aus der gleichen Zeit. Der Coup von Kauf und Schenkung gelang mit öffentlichen und Sponsoren-Geldern, womit die Sammlung der Berlinischen Galerie wieder einmal einen bedeutenden Zuwachs osteuropäischer Avantgarde- Kunst erhielt. Kurz zuvor war dem Hause nämlich – ebenfalls durch Einsatz von Sponsorenmitteln und nicht unerheblichen Zuschüssen der Stiftung Deutsche Klassenlotterie – der Erwerb eines Großteils des Nachlasses des russischen Konstruktivisten Naum Gabo gelungen: Zeichnungen, Skizzen, Skulpturen. Damit wurde die „berlinorussische Familie“ innerhalb der Sammlung der Avantgarde- Kunst der zwanziger Jahre wesentlich bereichert.

Was aber macht dieses Bild, um das herum jetzt eine groß angelegte Retrospektive in der oberen Etage des Martin-Gropius-Baus arrangiert wurde, so interessant? Es ist, und das haben die Recherchen zu der Ausstellung „Stationen der Moderne“ (1988) ergeben, Punis Schlüsselwerk – gemalt in Berlin 1921 und hier zum ersten Male gezeigt in der legendären „Großen Berliner Kunstausstellung – Sektion Novembergruppe“ im Lehrter Bahnhof (1922). Damit reiht es sich ein in die Liste von Kunstwerken, die in den zwanziger Jahren von nach Berlin emigrierten russischen Künstlern geschaffen wurden. Puni kam nämlich Ende 1920 nach Berlin, wo er allerdings nur kurz – bis 1923, dem Jahr seines Weggangs nach Paris – blieb. Aber es waren fruchtbare drei Jahre, deren Ende mit dem Abschluß der interessantesten Stilphase dieses Künstlers zusammenfiel.

1892 in Kuokkala, Provinz Sankt Petersburg, geboren, zeigt Puni früh Interesse an der Malerei. Die für ihn vorgesehene militärische Laufbahn lehnt er ab und verläßt mit 18 Jahren das Elternhaus. Er lebt, von einigen Reisen nach Paris unterbrochen, bis 1920 in Petrograd und hat engen Kontakt zu bekannten Künstlern der russischen Avantgarde. Anschließend die drei Jahre in Berlin, wo er mit vielen emigrierten, aber auch mit deutschen Kollegen am regen Kunstleben um die Novembergruppe und die „Sturm“-Galerie teilhat. Ab 1924 dann endgültige Niederlassung in Paris als Jean Pougny, wo er sich schnell assimilierte und ab den dreißiger Jahren wie selbstverständlich zur französischen Kunstszene zählt. 1946 wird er französischer Staatsbürger. Puni stirbt im Jahr 1956.

Seine Vorliebe gilt während der frühen russischen Jahre der futuristischen und kubistischen Mal- und Sehweise, wobei ihn nicht so sehr der „Stil“, sondern die poetische Ausdrucksmöglichkeit mit den Mitteln dieser Stile interessiert: Alle seine frühen Bilder sind daher von einem erzählerischen Moment durchdrungen – man ist fast geneigt zu sagen, von einer surrealistischen Erzähltechnik. Montierte Versatzstücke wie Lampen, Schüsseln, Tische und Schirme dienen dabei als Dinge eines immer wiederkehrenden Bilderrätsels – eine Sichtweise von Welt und eine Arbeitsweise, die in seinen Bildern bis zum Ende der zwanziger Jahre konstant bleiben wird, auch wenn die Bilder ab 1923 formal nicht mehr die gleiche Kraft aufweisen.

Spätestens seit seiner Teilnahme an den beiden bedeutenden russischen Ausstellungen der zehner Jahre, „0,10“ und „Tramway W“, beide in Petrograd 1915/16, wird die intensive Suche nach einer eigenen, originären „synthetischen“ Malweise deutlich. Ein eigenständiger, formaler Beitrag zur aktuellen Kunst in seinem Land ist bis dahin nicht zu entdecken. Während andere Maler seiner Generation, zum Beispiel Tatlin und Malewitsch, am Material und an der Form interessiert bleiben, sind es bei Puni die Sujets und deren Verbindung zu Sinnzusammenhängen der dinglichen Welt. Wollen die anderen einen sozialen „Weltentwurf“, so will Puni malend und zeichnend nach dem möglichen Sinn und nach den Rätseln der vorhandenen Welt fragen.

Er spielt in den Jahren zwischen 1913 und 1920 mit den Formen und der Bedeutung dieser Dinge – aber er bleibt heiter und gelassen dabei, poetisch und bisweilen melancholisch. Doch es gibt auch traurige Werke, triste Szenen. Allen Bildern ist dieses Erzählerische wirklich „eingemalt“, die Kompositionen nehmen sich manchmal aus wie Listen zu einem Bühnenstück – ganz so, als müßten sich die Dinge gleich in Bewegung setzen, eben zu erzählen beginnen. Das gilt auch für die in diesen Jahren geschaffenen Illustrationen, für die teilweise hinreißenden kleinen Tuschzeichnungen, die in kräftigen Kontrasten formale Anklänge an den Expressionismus zeigen, aber darüber hinaus brillante Szenerien aus der Stadt Petersburg vorführen.

Mit dem Versuch der Poetisierung von Wand und Fläche, Raum und Maß entsteht kurzzeitig sein interessantestes Kunstprogramm, das dann mit dem „Synthetischen Musiker“ endet: Es ist die Synthese der russischen Plakat- und Schilderkunst (die auf die damals zahlreichen Analphabeten zielte) mit der Reliefkunst, also der formalen Durchdringung und Gestaltung der Dimension „Raum“. In der Ausstellung sind einige schöne Beispiele dieser Periode zu sehen: farbige Reliefs und flächig-strenge Kompositionen mit dinglichen Versatzstücken. Aber den Weg der reinen Abstraktion geht Puni nicht weiter – und so bricht er mit den Bildvorstellungen und der zunehmend politisch verstandenen Kunstauffassung vieler seiner russischen Malerkollegen. Sein Motto: Kunst soll Kunst und im Atelier bleiben – und eben nicht ins Leben gehen. Sein nächstes Atelier bezieht er in Berlin.

Im „Synthetischen Musiker“ von 1921 sind alle zuvor geprobten Eigenschaften und (Erzähl- und) Malweisen präsent. Es spielt hier tatsächlich der Musiker auf verschiedenen Instrumenten (Klavier, Cello, Gitarre) verschiedene Partituren (Kubismus, Futurismus, Suprematismus, Neue Sachlichkeit). Es ist somit eine Art Quersumme des Schaffens und Suchens nach einer eigenen Ausdrucksmöglichkeit und ein Flickenteppich von Wahrnehmungsmöglichkeiten der modernen Malerei zugleich. Punis frühe Bilder sind hier ebenso aufgehoben wie seine an Tatlins Konterreliefs erinnernde Wandskulpturen. Die chaplineske Heiterkeit, die romanische intellektuelle Formsuche und die russische Melancholie von Abschied und Neubeginn in der Diaspora – all das vereinigt, verdichtet sich in diesem hier in Berlin gemalten Bild. In den zwanziger Jahren kommen noch einige dieser Versuche hinzu: Stilleben, die ein vermeintliches Geheimnis wahren, vereinfachte Bilderrätsel wieder, formal schwankend zwischen konstruktiver Geste, neuer Sachlichkeit und schwindendem Kubofuturismus. So eigenartig amalgamiert und unbestimmt diese Beschreibung klingt: Ab den späten zwanziger Jahren bleibt das Werk unbefriedigend und auf bestürzende Weise flach, leblos. Selbst der Katalog zeigt kein Werk aus den dreißiger Jahren, und die Zeit ab 1940 wird belegt von harlekinesken, braven und haarscharf am Kunstgewerbe vorbeischlitternden Strand- und Zimmeridyllen. Die letzten Bilder erinnern an Papierreißbilder von Kindern und zum Teil an japanische und expressionistische Holzschnitte: schmale, hohe, strenge Formate, denen man nicht ansieht, daß ihr Schöpfer mit dem Gewitterblitz der russischen Revolution – wie die kippende Bewegung des „Synthetischen Musikers“ es anzeigt – seinen Halt verlor.

„Iwan Puni. 1892–1956“ in der Berlinischen Galerie, in Zusammenarbeit mit dem Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris. Martin-Gropius-Bau, Stresemannstr. 110, bis 14.11., Di.–So. 10–20 Uhr. Katalog (Hatje Verlag) 38 DM

Das Buch „Iwan Puni – Synthetischer Musiker“ erschien in der Reihe „gegenwart museum“ der Berlinischen Galerie und des Museumspädagogischen Dienstes Berlin, 1992, und ist über die Nicolaische Verlagsbuchhandlung zu beziehen.