Damoklesschwert Leukämie

In der Umgebung des AKW Krümmel höchste Blutkrebsrate Deutschlands/ Wissenschaftlerin geht von einem schweren Störfall 1986 aus  ■ Aus Tespe Gaby Mayr

„Nicole geht es jetzt sehr gut“, freut sich ihre Mutter Birte Jürgens. Bei dem inzwischen vierjährigen Mädchen war im Januar 1991 Leukämie festgestellt worden. Es folgten Chemo- und Strahlentherapie, anschließend mußte Nicole anderthalb Jahre starke Medikamente schlucken. Jetzt ist die Behandlung beendet, die Zeit des angespannten Abwartens hat begonnen. Erst wenn zwei Jahre nach dem Ende der Behandlung der Blutkrebs nicht erneut aufgetreten ist, gilt Nicole als geheilt.

Die Jürgens wohnen in Tespe, einem Elbdorf südöstlich von Hamburg. Ziegelrote Bauernhöfe ducken sich hinterm Deich. Aber die Idylle trügt: Tespe und seine Nachbardörfer haben traurige Berühmtheit erlangt, als innerhalb von 16 Monaten sechs Kinder und ein Jugendlicher an Leukämie erkrankten. Das war zwischen 1989 und 1991. Nirgendwo in der Bundesrepublik ist bisher eine so hohe Leukämierate aufgetreten. Inzwischen sind drei der Erkrankten gestorben: Angela wurde neun Jahre alt, Sebastian acht. Sönke Rehr (21) versuchte bis zu seinem Tod im vergangenen Herbst, gemeinsam mit anderen ElbmarscheinwohnerInnen die Verursacher der Katastrophe ausfindig zu machen.

Am gegenüberliegenden Elbufer ragt das Atomkraftwerk Krümmel als überdimensionaler Klotz aus dem sanften Hügelland. „Achtung, Sogwirkung!“ warnen riesige schwarze Lettern am betonierten Ufer unterhalb des AKW. Dort wird Kühlwasser angesogen, um ein paar Meter elbabwärts, nach einem Durchlauf durch das AKW radioaktiv angereichert, in die Elbe zurückzufließen.

Als Anfang Mai 1991 die siebte Leukämieerkrankung in der Elbmarsch bekannt wurde, gründeten AnwohnerInnen die „Bürgerinitiative gegen Leukämie“. Sie forderten die „Stillegung der Atomanlagen, bis ein ursächlicher Zusammenhang mit den Leukämiefällen sicher ausgeschlossen ist.“ Das Darmstädter Ökoinstitut erhielt letzte Woche zusammen mit einem anderen Forschungsinstitut auf ihr Drängen hin den Auftrag, zu püfen, ob es unerkannte Störfälle gab.

Die BI ist keine Versammlung eingeschworener AtomgegnerInnen. „Wir wollten nicht gleich alle AKW abschalten“, erzählt Susanne Gernert. Die BI habe auch die örtliche Chemiefabrik, das Wasserwerk und die Ernährungsgewohnheiten unter die Lupe genommen. Ihre von einigen WissenschaftlerInnen unterstützte Spurensuche förderte allerdings immer neue Indizien gegen die Atomanlagen am gegenüberliegenden Elbufer zutage. Inge Schmitz-Feuerhake, Professorin für medizinische Physik an der Uni Bremen, formulierte den Verdacht: Da die sieben Leukämiefälle innerhalb von nur 16 Monaten zwischen 1989 und 1991 auftraten, sei eine starke radioaktive Belastung als Auslöser anzunehmen. Und weil die meisten Kinderleukämien vier bis sechs Jahre nach der Bestrahlung ausbrechen, schloß Schmitz-Feuerhake auf einen unerkannten Störfall im Jahre 1986. Wenn allerdings ein Störfall so weit zurückliegt, ist er schwer nachzuweisen, weil viele radioaktive Substanzen schnell zerfallen.

Schmitz-Feuerhake untersuchte fünf erwachsene Familienangehörige der Erkrankten und fand bei allen deutliche Chromosomenveränderungen. Auch bei den Geschwistern stellte sie typische Abweichungen fest, obwohl sich bei Kindern die Chromosomen rascher erneuern, die Spuren der Strahlung schneller verschwinden. Aus der Chromosomenuntersuchung schloß Schmitz-Feuerhake auf eine Strahlendosis von 140 Millisievert, also mehr als das 200fache des Grenzwerts. Diese Dosisabschätzung wird inzwischen auch von dem eingeschworenen Feuerhake-Gegner Professor Horst Jung aus Hamburg geteilt. Jung verläßt dann allerdings den Pfad der Logik: Eine derartig hohe Strahlenbelastung wäre nicht unentdeckt geblieben, behauptet Jung. Ein radioaktiver Störfall scheide deshalb als Ursache aus.

Zur sicheren Einschätzung der Elbmarscher Untersuchungsergebnisse beauftragten Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine Expertengruppe, die Untersuchungsergebnisse mit der Chromosomenanalyse einer Kontrollgruppe aus einer unbelasteten Gegend zu vergleichen. Die Kieler Beamten entschieden sich für Plön. Die BI deckte auf, daß Plön durch den Tschernobyl-Fallout besonders hoch belastet worden war. Da aber die Auswahl einer neuen Kontrollregion die Beamten weitere Monate in Atem gehalten hätte, verzichtete sie auf ihren Einspruch — denn die defekten Chromosomen, mögliche Zeugen eines vergangenen Strahlenvorfalls, verschwinden allmählich.

Im September 1992 gelangten die ElbmarscherInnen in den Besitz eines brisanten Reports, angefertigt von Experten, die nach der Katastrophe von Tschernobyl im Auftrag der Internationalen Atomenergiekommission westliche AKW überprüften. In Krümmel stellten sie fest, daß sich „Ablagerungen auf den Brennstäben ... in großem Umfang abgelöst“ hätten. Dieses verhältnismäßig ungewöhnliche Vorkommnis habe zu einer „erhöhten Kontamination des Reaktorsystems geführt.“ Schmitz-Feuerhake schloß auf eine Versprödung der Brennelementhüllen. Durch entstandene Undichtigkeiten hätten die radioaktiven Edelgase Krypton und Xenon sowie Tritium und Kohlenstoff 14 entweichen können. Bei einer Versammlung im Februar bestätigte Krümmel-Sprecherin Ulrike Welte, daß eine radioaktive Belastung von 140 Millisievert nur von den Brennstäben herrühren könnte. „Aber“, versicherte sie lächelnd, „es hat 1986 keinen großen Störfall gegeben, genausowenig, wie davor oder danach.“

Ihrer Kontrahentin Schmitz- Feuerhake aber wird der Zutritt zum AKW verwehrt. Die Bremer Professorin kann nur auf Ungereimtheiten hinweisen: Die Kieler Fernüberwachung für Radioaktivität hat zu zwei verdächtigen Zeitpunkten eine „Gerätestörung“ gemeldet. Das Tritiumüberwachungssystem im AKW wurde 1988 ohne Begründung verändert. Und ein Beamter in Hannover hat bei genauer Durchsicht der Meßdaten aus Krümmel und von staatlichen Meßstellen Nuklide von radioaktiven „Töchtern“ gefunden, die beim Zerfall der radioaktiven Edelgase entstehen, wie sie für den Siedewasserreaktor Krümmel typisch sind. Die Töchter und ihre Mütter stammen mit Sicherheit nicht aus Tschernobyl.

In diesem Zusammenhang erinnerten sich Leute aus der BI an einen Vorfall vom 12. September 1986, als ein Meßtrupp in Strahlenschutzanzügen außerhalb des AKW mit ihren Meßgeräten unterwegs war. Die Bergedorfer Zeitung hatte damals die Stellungnahme der Betreiberfirma HEW wiedergegeben, daß „die normale, dem Erdboden entweichende Strahlung ... wegen Windstille und hoher Luftfeuchtigkeit nicht abgezogen“ sei. Über Luftfilter sei die Strahlung ins AKW gelangt. Die märchenhafte Erklärung wiederholt Krümmel-Sprecherin Welte auch sechs Jahre und zehn Krebsopfer nach dem Vorfall.

Den Leuten von der BI bleibt, weitere Indizien zusammenzutragen. Anfang 1987 fror die Elbe zu. Das Wasser, das sich schon beim einmaligen Durchlauf durchs AKW radioaktiv anreichert, konnte nicht abfließen und rotierte mehrmals durchs Kraftwerk. Schließlich brach der Deich gegenüber vom AKW in Tespe, und das Elbwasser stand tagelang in den Gärten. Als das Wasser abgeflossen war, pflanzten die Tesperinnen nichtsahnend neues Gemüse an.

Da Tritium sich im Holz der Bäume ablagert, legten Schmitz- Feuerhake und ihr Münchner Kollege Edmund Lengfelder Autoradiographiefilme auf Baumscheiben und stellten Schwärzungen bei den Jahresringen 1986 und 1988 fest. Dies verstärkte den Verdacht, daß es einen zweiten Störfall um 1988 gegeben hat. Im Wasserwerk von Geesthacht wurde für Anfang 1989 eine noch höhere Belastung mit Cäsium 137 gefunden als für Ende 1986. Auch Cäsium 137 ist eine Tochter des Edelgases Xenon.

Prompt stieg die Tritiummessung der Baumscheiben auf Widerspruch. Der Göttinger Medizinphysiker Professor Dietrich Harder, Mitglied der schleswig- holsteinischen Expertenkommission, ließ die Baumproben nochmals untersuchen und stellte zunächst fest, daß ihr Wert „höchstens bei 100 bis 200 Becquerel pro Kilogramm über dem Tritiumgehalt von Vergleichsproben“ lag. Obwohl das die übliche Belastung um das Zehnfache übertraf, veröffentlichte er flugs seine Schlußfolgerung: damit sei „die ursprüngliche Hypothese hinfällig, eine erhöhte Tritiumbelastung in einzelnen Jahresringen stünde mit der erhöhten Leukämierate in Zusammenhang.“ Bei einer Nachuntersuchung mit angeblich geringeren Meßfehlern kam Harder sogar zu dem Ergebnis, die Baumscheiben seien ganz unbelastet. Die schleswig-holsteinische Expertenrunde ließ sich von Harder überzeugen, aber die Messungen gehen weiter.

Derweil fühlen sich viele ElbmarschenerInnen gezwungen, für sich und vor anderen zu rechtfertigen, warum sie nicht längst weggezogen sind. „Ich will hier leben, weil's mir hier gefällt,“ sagt Susanne Gernert fast trotzig. „Aber die Unsicherheit wirst du nicht los. Bei jedem neuen Leukämiefall haben wir schlaflose Nächte.“

Und die schlechten Nachrichten nehmen kein Ende. In den letzten Monaten sind drei Erwachsene an Krebsarten erkrankt, die typischerweise von Strahlen ausgelöst werden. Jetzt soll eine epidemiologische Untersuchung in den Krankenhäusern der Landkreise Lüneburg und Harburg durchgeführt werden, um herauszufinden, ob auch im weiteren Umkreis höhere Krebsraten zu verzeichnen sind.