Viel mehr Krebs bei Kindern seit Tschernobyl

■ In Belorußland gibt es 14mal mehr Fälle als Mitte der 80er Jahre/ Ursache vermutlich radioaktive Wolke

Berlin (taz/wps) — In Belorußland hat die Zahl der Kinder mit Schilddrüsenkrebs deutlich zugenommen. Während Mitte der achtziger Jahre vier Fälle pro Jahr in Belorußland bekannt geworden waren, haben Wissenschaftler der GUS- Republik 1991 56 Fälle registriert. Für 1992 rechnen die Ärzte vom belorussischen Gesundheitsministerium sogar mit über 60 Fällen, heißt es in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature. Die Angaben sind in einem Brief der Wissenschaftler an das Magazin enthalten. Das Forschungsteam unter der Leitung von Wassili Kasakow vermutet radioaktives Jod-131 als Auslöser für die Krebserkrankungen. Jod-131, daß bei der Katastrophe von Tschernobyl in großen Mengen freiwurde, hat eine relativ kurze Halbwertszeit von acht Tagen.

Keith Baverstock vom Europäischen Umweltmedizin-Zentrum der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigte sich sehr erstaunt über Anzahl und Verlauf der Erkrankungen. Schilddrüsentumore bei Kindern seien normalerweise relativ einfach zu behandeln. Doch die Tumore der erkrankten Kinder in Belorußland seien besonders aggressiv und hätten schon zu Metastasen geführt. Von den erkrankten Kindern hatten 55 ein Wachstum des Krebses in anderem Gewebe und sechs sogar Metastasen in entfernten Organen wie der Lunge aufgewiesen. Eigentlich, so Bavenstock, hätte man den Ausbruch so vieler Erkrankungen erst deutlich später erwartet.

Der WHO-Wissenschaftler machte auf noch einen Umstand aufmerksam. Das Auftreten der Erkrankungen korreliere nicht mit den besonders hohen Belastungen der Böden in manchen Teilen Belorußlands. Die radioaktive Wolke, die direkt nach dem Unfall als erstes über Belorußland gezogen war, könnte verantwortlich sein, vermutete der Wissenschaftler — eine Vermutung, die sich mit der Jod-Hypothese der GUS-Wissenschaftler deckt. ten