Zeit der Masken

Lesben trugen unter den Nazis keinen rosa Winkel, verfolgt wurden sie doch.  ■ VON GABRIELE MITTAG

Am 13. Januar 1940 wird Henny S. ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Auf dem „Meldebogen“ heißt es: „Jenny Sara S., [...] ledige Verkäuferin Ffm. Triebhafte Lesbierin, verkehrte nur in solchen Lokalen. Vermied den Namen ,Sara‘. Staatenlose Jüdin.“1 Im Laufe des Jahres 1942 wurde sie gemeinsam mit 700 bis 800 anderen Jüdinnen im Lager sowie nichtjüdischen Schwerkranken und Gebrechlichen in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ bei Dessau vergast.

Die näheren Hintergründe ihrer Verhaftung sind heute nicht mehr zu klären. Kam sie tatsächlich ins KZ, weil sie lesbisch war oder weil ihr Verhalten von den Nazis als „lesbisch“ kategorisiert wurde? Hatte der verbrecherische Schreiber dieses „Meldebogens“, der an den Euthanasiemorden beteiligte Arzt Friedrich Mennecke, die Formulierung aus den Gestapo-Akten übernommen, wie dies oft der Fall war? Wie in zahlreichen anderen Fällen wurden die Akten der Gestapo bzw. der in diesem „Fall“ zuständigen Staatspolizeistelle Frankfurt vernichtet.

Dies ist nur eines der vielen Beispiele für die Schwierigkeiten, ein Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten, für das sich bisher weder Museen, Gedenkstätten, politische Gruppierungen2, geschweige denn deutsche Universitäten so recht interessierten, nicht zuletzt, weil der Gegenstand immer noch als „unseriös“, wenn nicht sogar „anrüchig“ gilt: Wie ist die unterschiedliche Bekämpfung von weiblicher und männlicher Homosexualität im „Dritten Reich“ zu erklären? Wie sah das Leben in den dreißiger Jahren für die lesbischen Frauen aus, die in den zwanziger Jahren erstmals ein kleines Stück Freiheit gewonnen hatten? Wieviele Frauen wurden aufgrund ihrer lesbischen Lebensweise und ihrer sexuellen Orientierung in KZs verschleppt?

Mit ihrer Dissertation Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität legt die Berliner Historikerin Claudia Schoppmann die erste umfangreiche Studie zu diesem Thema vor. Während seit den siebziger Jahren Untersuchungen über die Verfolgung und Ermordung von homosexuellen Männern erscheinen3, gab es bisher nur einige wenige Bemühungen, lesbische Opfer sichtbar zu machen.4 Nur gelegentlich werden in den Untersuchungen zum geschlechtsneutral formulierten Thema „Homosexuelle im Nationalsozialismus“ überhaupt Frauen erwähnt. Oft genanntes Argument: Es seien ja vor allem die homosexuellen Männer gewesen, die von der Verfolgung betroffen gewesen seien, denn eine strafrechtliche Drangsalierung (§175) habe bei den lesbischen Frauen nicht stattgefunden.

Aufgrund der ganz anderen gesellschaftspolitischen Stellung der Frau im extrem geschlechterhierarchisch organisierten NS-Staat hatte die Verfolgung der homosexuellen Männer tatsächlich ein anderes Ausmaß als für lesbische Frauen. Zwei Drittel der schätzungsweise 10.-15.000 in KZs verschleppten Männer gingen dort zugrunde. Aber die Unmöglichkeit, nicht einmal geschätzte Zahlen in bezug auf die verfolgten lesbischen Frauen nennen zu können, zeigt nur die Schwierigkeit, die Geschichte der lesbischen Opfer des Faschismus zu rekonstruieren. „Daß sie strafrechtlich nicht verfolgt wurden“, so Claudia Schoppmann, „bedeutet nicht, daß es keine Verfolgung gab.“

Kaum Dokumente, spärliche Spuren

Vernichtete Dokumente, kaum existierende mündliche Berichte von Zeitzeuginnen — die ihre Angst vor einem Coming-out nie verloren haben — und spärliche Äußerungen von Nazis zur weiblichen Homosexualität, das waren die negativen Voraussetzungen für die Forschungsarbeit Claudia Schoppmanns. Eine der wichtigsten Quellen ihrer Arbeit bilden die Äußerungen von Nazis in den NS-Presseorganen, in den einschlägigen NS-Büchern sowie unveröffentlichte Dokumente aus deutschen Archiven, darunter jene der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“, die 1936 von Himmler gegründet wurde.

Wenngleich die Äußerungen über Homosexualität von Mitgliedern der männerbündisch organisierten NSDAP in den zwanziger Jahren eher selten und konfus waren, so enthalten sie schon alles, was von 1933 an als Teil einer bevölkerungspolitischen und rassistischen Ideologie politikfähig wurde: „Wer [...] an Mann-männliche oder Weib-weibliche Liebe denkt, ist unser Feind“ (NSDAP 1928). Als 1929 dem Reichstag die Abschaffung des §175 empfohlen wurde, holte die NSDAP im 'Völkischen Beobachter‘ zum Großangriff aus und drohte den Homosexuellen mit Todesstrafe: „...Wir werden [sie] in Kürze als das gesetzlich kennzeichnen, was sie sind, als ganz gemeine Abirrungen von Syriern, als allerschwerste, mit Strang oder Ausweisung zu ahndende Verbrechen.“

Wann immer von der „Bekämpfung der Homosexualität“ und dem §175 die Rede ist: Im allgemeinen sind ausschließlich Männer gemeint. Männliche Homosexuelle wurden als „bevölkerungspolitische Blindgänger“ denunziert. Mit der Ermordung des (homosexuellen) SA-Stabschefs Ernst Röhm im Jahre 1934 setzte die Verfolgung (und auch Emigration) homosexueller Männer in größerem Maß ein. Tausende kamen zur „Umerziehung“ in KZs. Weibliche Homosexualität war für die Nazis im Grunde „undenkbar“ oder nur als „Pseudohomosexualität“ vorstellbar, als Ergebnis einer „Verführung“ und bevölkerungspolitisch keine Katastrophe, da die Frau „nach wie vor nutzbar“, das heißt immer „fortpflanzungsfähig“ und im Gegensatz zum Mann immer „geschlechtsbereit“ sei.

Die geschlechtsspezifische Homosexualitätspolitik im „Dritten Reich“ hat demnach ihre Ursache in der unterschiedlichen Bewertung von männlicher und weiblicher Sexualität: „Die [...] heterosexistische Struktur des NS-Regimes postulierte eine umfassende ,naturgegebene‘ Abhängigkeit der Frau vom Mann — auch und besonders in sexueller Hinsicht — und versuchte, diese so weit wie möglich gesetzlich und institutionell auch durchzusetzen.“ Die jahrhundertealte patriarchale Tradition, den Frauen ein selbstbestimmtes sexuelles Erleben unabhängig von Männern abzusprechen, die Deklarierung weiblicher Passivität als Geschlechtscharakter, bewahrte die lesbischen Frauen in gewisser Weise vor einer systematischen und strafrechtlichen Verfolgung.

Anbiederung oder Unauffälligkeit

Die Autorin vermeidet es im folgenden, lesbische Frauen als Opfer per se zu stilisieren, denn zwischen (weiblicher) Homosexualität und pro- oder antifaschistischer Haltung gibt es keinen naturgemäßen Zusammenhang. So wirft denn die Beantwortung der Frage nach der politischen Haltung der tonangebenden Lesben zur Zeit des Berliner Lesben- Eldorado der zwanziger Jahre auch ein neues, vielschimmriges Licht auf die angehimmelte Lesbenbewegung der Weimarer Republik. Das 1928 erschienene Buch Berlins lesbische Frauen von Ruth Roellig5, versehen mit einem Vorwort von Magnus Hirschfeld, enthält eine für heutige Verhältnisse schwindelerregende Anzahl von Clubs, Vereinen und Treffpunkten. Es stellt sich die spannende Frage, was denn aus all den Clubbesucherinnen, den Vereinsfrauen, den ehemaligen Autorinnen des vielfältigen lesbischen Blätterwaldes wurde, als ab 1933 schon allein der Bubikopf zur Erregung öffentlichen Ärgernisses wurde.

Was wird aus einer Frau wie Selma Engler, der Herausgeberin der Zeitschrift 'Blätter idealer Frauenfreundschaften‘ (Untertitel: Monatsschrift für weibliche Kultur), Clubleiterin, Mitarbeiterin der Zeitschriften 'Frauenliebe‘ und 'Freundin‘, kurz Berufslesbe? Gleich nach dem Kahlschlag homosexueller Kultur durch die Nazis biedert sie sich an und zwar mit einem Theaterstück. Titel: „Heil Hitler“. Sie hat es dem Führer persönlich zugesandt. Um der Reichsschriftkammer beitreten zu können, schreibt sie ihre Biographie so um, daß kein Körnchen Lesbos mehr enthalten ist. Über Englers weiteren Lebensweg ist nichts bekannt, nur daß sie 1982 in Ost-Berlin verstarb.

Der Sinneswandel Selma Englers ist ein Beispiel politischer Haltungen lesbischer Frauen. Neben Anpassung oder Anbiederung versuchten die meisten vor allem, nicht aufzufallen. Die Emigration war besonders für diejenigen eine schwere Entscheidung, deren Leben und Arbeit so eng mit der deutschen Sprache verbunden war. Wie hätte denn eine Berliner Schnauze wie Claire Walldoff auf französisch geklungen? Sie blieb in Deutschland und trat — nach temporären Auftrittsverboten — immerhin bis 1941 auf. Folgende auf Göring gemünzte Strophe ihres berühmten „Hermann“-Liedes brachte ihr die Haft ein: „Rechts Lametta, links Lametta, und der Bauch wird immer fetta, und in Preußen ist er Meester — Hermann heeßt er!“

Lesbische oder bisexuelle Frauen wie Charlotte Wolff, Erika Mann und die Erfolgsautorin Christa Winsloe (Mädchen ohne Uniform)6, die aufgrund ihrer politischen Haltung und/oder der staatlichen Zuschreibung als Jüdinnen galten, wollten und konnten nicht in Deutschland bleiben. Für viele, die in Deutschland blieben, bedeutete das Bleiben Zerstörung ganzer Lebensläufe, und das nicht erst mit der Einlieferung ins Konzentrationslager.

Von der NS-Frauenpolitik- und ideologie waren neben den Jüdinnen, den Afrodeutschen und den als „erbkrank“ stigmatisierten Frauen auch all jene betroffen, die kinderlos, ledig und/oder lesbisch waren. Die Maskierung wird nun lebensnotwendig. Die Maske, die ein wenig Schutz versprach, war die der Ehe. Eine der wenigen anonymen Stimmen: „Ich lebte schon seit Jahren mit meiner Freundin zusammen. Manchmal munkelten die Leute: ,Haben die was zusammen?‘ Als das Dritte Reich ausbrach, hieß es dann bösartig: ,Die haben doch was zusammen!‘ Da waren die Hauswarte und Blockwarte, die in unser Privatleben hineinleuchteten und Meldungen erstatten sollten. Unsere Zimmervermieterin wurde ausgefragt, ob sie etwas über unser ,Intimleben‘ wüßte. Eines Tages kam unser Chefredakteur zu mir ins Atelier und sagte ungeduldig, ich müsse endlich heiraten oder er könne mich nicht weiter beschäftigen.“

Das ganze Leben eine Heuchelei

Wieviele Frauen sich in die Ehe, zum Teil mit homosexuellen Männern, zu retten versuchten, ist heute nicht mehr zu überprüfen. Aber angesichts der NS-Bevölkerungspolitik, für die jede unverheiratete, kinderlose Frau im „Gebäralter“ ein Politikum war, ist anzunehmen, daß von den ca. 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Lesben viele in die Ehe einwilligten. In einem Land, in dem ausgewählten Frauen das Gebären „zur nationalen Pflicht“ gemacht und die Verweigerung der Zeugung als „völkische Fahnenflucht“ bezeichnet wurde, bot die Eheschließung allein jedoch keinen Schutz vor staatlicher Verfolgung. Wieviele Frauen haben aus Angst Kinder bekommen? Das ganze Leben wurde eine einzige Heuchelei. Doch es gab noch Schlimmeres. Das KZ.

Else (ihr Nachname ist unbekannt), Jahrgang 1917, lebte in Potsdam mit ihrer Freundin zusammen und wurde offenbar wegen ihrer Homosexualität verhaftet und landete als „Asoziale“ in Ravensbrück. Von dort kam sie unter nicht geklärten Umständen 1938 ins KZ Flossenburg und mußte dort im Lagerbordell arbeiten. Wie in zahlreichen anderen Fällen kann der weitere Lebensweg nicht mehr rekonstruiert werden. Fest steht nur, daß sie noch vor 1945 verstarb. Wahrscheinlich in Auschwitz.

Die Verhaftungsumstände der unbekannten Else sind repräsentativ. Im Gegensatz zu den männlichen Homosexuellen wurden bei den Frauen meist „verdeckte“ Verfolgungsgründe angeführt. In den KZ wurden sie meist als „Kriminelle“ und „Asoziale“ oder „Wehrkraftzersetzerinnen“ eingesperrt. Auf keinen Fall waren sie als separate Gruppe gekennzeichnet und als Lesben mit einem Rosa Winkel stigmatisiert wie die Männer. Zu den bittersten Erlebnissen lesbischer Frauen, die das KZ überlebten, gehört die Isolation und die weiterhin erzwungene Maskierung, denn auch hier, unter (nichtlesbischen) Leidensgenossinnen, wurden sie diskriminiert, waren der Abschaum. „Die von der SS vorgenommene Gleichsetzung von lesbisch und asozial wurde von den meisten Internierten geteilt.“

Claudia Schoppmanns Untersuchung ist ein wichtiger Beitrag für die Faschismusforschung, weil sie Erklärungen für die — in der Ideologie der Nazis begründete — geschlechtsspezifische Homosexualitätspolitik im Kontext der NS-Bevölkerungspolitik analysiert und gleichzeitig die Opfer sichtbar macht, die bis heute nicht den Mut hatten, über und von sich zu sprechen. Kein Wiedergutmachungsantrag wurde gestellt. Wer auch hätte ihn stellen sollen?

Gleichzeitig setzt sie die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus in die Traditionslinie des homophoben (bürgerlichen) Staates, der seinen sexual- und bevölkerungspolitischen Machtanspruch im Deutschland der 30er Jahre am brutalsten zum Ausdruck brachte. Um so bitterer ist es, daß der Rechtsnachfolger BRD bei seiner Staatsgründung die „positive Diskriminierung“ der Lesben im Strafrecht und den unter den Nazis verschärften §175 beibehalten hat.

1)Der Meldebogen befindet sich im Staatsarchiv Nürnberg und wird in dem folgenden Buch zitiert: Claudia Schoppmann: „Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität“, Centaurus, Pfaffenweiler 1991. 286 Seiten. 38 DM

2)Eine wichtige Ausnahme sind selbstverständlich homosexuelle und lesbische Organisationen und Initiativen wie beispielsweise die HUK (Homosexuelle und Kirche) in Berlin oder die „Initiative Mahnmal Homosexuellenverfolgung“ Frankfurt am Main.

3)u.a. Lautmann/Grikschat/Schmidt (1977), Stümke/Finkler (1981), Plant (1986)

4)Heinz-Dieter Schiller (1983), Ilse Kokula (1984 u. 1989)

5)„Lila Nächte · Die Damenklubs im Berlin der zwanziger Jahre“, Edition Limone. 32 DM

6)Die Briefe Christa Winsloes aus der französischen Emigration sind gerade erschienen in: Claudia Schoppmann: „Im Fluchtgepäck die Sprache · Deutschsprachige Autorinnen im Exil“, Orlanda Verlag, Berlin 1991.