Erinnyen oder Erinnern

„Zur Psychoanalyse deutscher Wenden“, ein Kongreß an der Freien Universität Berlin/ „Gewendete Biographien“ bei der „HJ-Generation“, den West-68ern und den Ost-89ern  ■ Aus Berlin Ute Scheub

„Ich bin ganz aufgewühlt.“ „Das Thema erregt mich sehr.“ Solche Sätze hörte man andauernd auf dem gestern beendeten viertägigen Kongreß „Erinnern — Wiederholen — Durcharbeiten — Zur Psychoanalyse deutscher Wenden“ an der Freien Universität Berlin. Für viele Beteiligte war er wohl der aufregendste seit langem. Hier gelang es endlich, nicht mehr einseitig die Ostler mit Schuld zu überhäufen, sondern die ganze schuldbeladene Geschichte Deutschlands zu betrachten. Hier wurde er in Ansätzen endlich möglich, der bewußt subjektive, biographienbezogene Dialog zwischen „Ossis“ und „Wessis“, Frauen und Männern, der „Hitlerjugend-Generation“, den „68ern“ und den Jüngeren. Zumal VertreterInnen aller Gruppen zuhörten und sprachen, meistens auf hohem Niveau.

Die Idee dazu hatte Brigitte Rauschenbach, Berliner Sozialphilosophin und Politische Psychologin, die auch das Eingangsreferat hielt. Die Genealogie des Verbrechens setze sich im — wohlgemerkt unbewußten — kollektiven Gedächtnis und mittels Wiederholungszwang fort, so ihre — hier stark verkürzte — These mit Blick auf Nationalsozialismus und Stalinismus, wenn die verdrängten Verbrechen nicht in „kooperativ erfolgender Kulturarbeit“ erinnert würden. Frau Rauschenbach führte das altgriechische Familiendrama von Agamemnon an, der seine Tochter Iphigenie opferte, worauf deren Mutter Klytaimnestra ihren Gatten und ihr Sohn Orest die Mutter ermordete. Der „Erbfluch“ wäre wohl noch ewig weitergetrieben worden durch die Erinnyen, die als Rächerinnen der Unterwelt oder des Unterbewußtseins die Mörder verfolgen, wenn nicht auf einem Tribunal Pallas Athene als Göttin der Vernunft ein „epochales Gesetz der Vernunft“ erlassen hätte, „das auch die Erinnyen anerkennen und Orest aus der Haft seiner Untat befreit“. „Erst die im Tribunal versammelte urteilende Vernunft unterbricht die mythische Verkettung“, begründete die Initiatorin indirekt ihre moderne Tribunal-Idee. Also: Erinnerung statt Erinnyen, um in Anlehnung von Ralph Giordanos Wort von der „zweiten Schuld“ eine „dritte Schuld“ zu vermeiden und vielleicht „das Schicksal deutscher Wenden zu wenden.“ Von den zahlreichen Podiumsdiskussionen mit vielen bekannten Namen von Hans-Joachim Maaz bis Alfred Grosser seien hier wenigstens zwei erwähnt, die sich mit dem eher westlichen Problem der „Wiederkehr der Väter“ und mit der „Schuld und Abwehr“ in der Ex- DDR beschäftigten.

„Hitler im Herzen und Auschwitz im Hirn“

Die Münchner Soziologin Sibylle Hübner-Funk rückte die „Hitlerjugend-Generation“ der Jahrgänge 1918 bis 1935 in den Mittelpunkt, die nicht „entnazifiziert“, sondern „demokratisch umerzogen“ wurde, in der Ex-DDR die FDJ aufbaute und „seit Anfang der 80er mit Kohls Kanzlerschaft die Macht in Bonn“ übernahm. „Hitler im Herzen und Auschwitz im Hirn“ habe diese Generation mit der Vereinigung „zum zweiten Mal in ihrem Leben die nationale Mission der Revision einer Nachkriegsordnung“ erfüllt.

Aber auch die Studentenbewegten von 1968, so die These der Frankfurter Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker, hätten trotz der Konfrontation mit ihren NS-belasteten Vätern eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vermieden und sogar einige Denkfiguren ihrer Eltern übernommen. So zum Beispiel die Verachtung gegenüber der Demokratie, die pflichttreue Unterwürfigkeit gegenüber „der Sache“ in den K-Gruppen oder auch die wechselnden „Ohnmachts- und Allmachtsgefühle“, die letztlich zum bewaffneten Kampf führten. Auch im Golfkrieg hätten Pazifisten und Bellizisten im Grunde ständig über deutsche Vergangenheit geredet: „Die einen sahen die Vernichtung Deutschlands, die anderen die Vernichtung Israels“, die einen „hängten Bettlaken als Zeichen der Kapitulation“ aus, die anderen träumten vom Tyrannenmord an Hitlers „Stellvertreter“ Saddam Hussein. „Stutzig“ machte Sophinette Becker aber auch „die Abruptheit und Feindseligkeit“ der Distanzierungen von 68ern gegenüber allen utopischen Ideen just seit der Wende. Die „massivste Entwertung“ pflegten wohl die, „deren Idealisierung früher am größten war“ und die sich mit der Pose des „Chefanklägers“ stalinistischer Verbrechen die individuelle Auseinandersetzung erneut sparen zu können glaubten.

Ein „einziger Volksgerichtshof?“

Wolfgang Fritz Haug, ehemals DDR-gläubiger Westberliner Philosophieprofessor, bekennt: Der Zusammenbruch des Ostblocks gehe auch jetzt noch „nicht in meinen Kopf“. „Ist das ein Widerstand im Sinne des Psychoanalyse?“ Die derzeitige „einseitige Schuldzuweisung“ an den Osten sei „ein Verbrechen zweiten Grades“. „Wir sind ein einziger Volksgerichtshof“, verstieg er sich, „wenn wir jeden Tag via Medien im Stasi-Archiv sitzen“.

„Gewendete Biographien“ war das Thema der anderen Podiumsdiskussion. Dorothee Wierling und Bernd Lindner trugen Beispiele von individueller Umwertung der Lebensgeschichte aus Leipzig vor und nach der Wende vor, und Ina Merkel, Mitgründerin des „Unabhängigen Frauenverbandes“, ergänzte diese aus frauenspezifischer Sicht. „Die Sprache des Diskurses über die Vergangenheit ist männlich“, kritisierte sie, Frauen jedoch seien sehr viel eher bereit, Schuld selbstkritisch zuzugeben. Sie verwies auf das Beispiel der IM Monika Haeger, die sich schon Monate vor der Wende selbst enttarnte, führte aber auch eine ehemalige SED-Funktionärin und Chefredakteurin auf, die sich aus typisch weiblichem schlechten Gewissen, „nie genug gemacht zu haben“, der Partei gefügig zeigte.

„Mutter Deutschland und Vater Faschismus“

Der Ostberliner Psychotherapeut Michael Froese bezweifelte jedoch insgesamt, daß eine „öffentliche Trauerarbeit“ im jetzigen politischen Klima möglich sei. Mit der Intention, diese tiefverletzte Selbstachtung der Ostler zu retten, schlug seine Berufskollegin Annette Simon diesen Bogen weiter. Die Eltern der deutschen Staatszwillinge seien „Mutter Deutschland und Vater Faschismus“ gewesen, der westliche Zwilling habe seine Schuld manisch abgewehrt und der östliche depressiv. Nun aber werde allein der Ostzwilling „mit doppelter Schuld beladen“, „nur wir waren die Kriecher, Spitzel und Neonazis“. Westliche Schamlosigkeit in der Schuldzuweisung und östliche Scham seien erneut zwei Seiten einer Medaille. Es helfe nur „das gemeinsame Ansehen von Schuld und Scham“.

Zum Kongreß gehörte allerdings auch, daß sich die gegenseitigen Rollenzuschiebungen wiederholten und wiederholten durften. Während östliche VertreterInnen auch bei der Abschlußdiskussion immer wieder auf die Unmöglichkeit der Durcharbeitung via (West-)Medien verwiesen, beharrten der Freiburger Psychotherapeut Tilmann Moser und andere just darauf. Die „Gleichzeitigkeit und Öffentlichkeit“ der Bewältigung sei schließlich etwas völlig Neues. Der bürgerbewegte Filmemacher Ralf Marschallek sah nicht nur keine Zeit zum Durcharbeiten, da sich „für uns von der Zahnbürste bis zur Steuererklärung alles geändert“ habe und er sich deswegen „staatenlos“ fühle: „Den einen Staat bin ich glücklich los, der andere ist von mir los.“ Vor allem aber sei „die Öffnung der Innereien eines Staates eine Art Sektion mit der Verführung, sich daran zu weiden“. Darin finde er „die DDR-Mechanismen der Vorverurteilung pur wieder“. Die Ostberliner Kabarettchefin Gisela Oechelhaeusler hingegen erinnerte erneut an die altgriechische Mörderkette: „Wenn ich die Iphigenie spielen soll, dann ist die Ferne eine Chance, um zur Nähe zu kommen.“ So ähnlich könne es doch auch in Ost- West-Gesprächen sein.

Die Kongreßergebnisse sollen publiziert werden. Brigitte Rauschenbach steht als Ansprechpartnerin für neue Projekte zur Verfügung.