ESSAY
: Die Faszination des Fundamentalismus

■ Gegen die geläufigen Erklärungen zum Aufstieg der Islamisten

Der Fundamentalismus wird in der Regel als Gegenbewegung zur Moderne gedeutet — als Rückfall in das Mittelalter, als Defensivstrategie des traditionalistischen Milieus (also der durch Modernisierung bedrohten unteren Mittelschichten, der Geistlichkeit etc.), als Flucht vor den Überforderungen der Moderne in die Hörigkeit geschlossener Kollektive.

Diese Deutungen treffen nicht den Kern der Sache. Der Fundamentalismus scheint mir nicht eine Abwehr, sondern eine Strategie des Umgangs mit der Moderne zu sein. Die Träger der fundamentalistischen Bewegung sind gerade Gruppen, die sich auf die Moderne eingelassen haben: Vor allem Stadtmigranten, die (oft in Rebellion gegen die Väter) den dörflichen Kontext verlassen haben, um in der Stadt ihr Glück zu suchen, und Universitätsabsolventen, die über Bildungsabschlüsse versucht haben, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen. Diese Gruppen wenden sich dem Fundamentalismus in einem Moment gesellschaftlich bedingten Scheiterns zu. Der Fundamentalismus verspricht in einer schwierigen Situation die Antwort auf die Frage, welche Richtung das Projekt Gesellschaft und das Projekt des eigenen Lebens nehmen soll.

Insofern ist der Fundamentalismus nach einer ersten Phase des Aufbruchs in die Moderne eine Phase der Reorientierung. Sie wird aktuell, wenn es — gesamtgesellschaftlich wie individuell — nicht mehr vorangeht: Fortschritt macht zwanglose Identitätskonstruktionen einfach: Auch Schwierigkeiten lassen sich ertragen, wenn es eine Perspektive ihrer Überwindung gibt. Weit schwieriger stellt sich die Lage dar, wenn die gesellschaftliche Entwicklung stagniert oder gar rückläufig ist. In einer solchen Situation entsteht leicht das Bedürfnis nach Selbstbehauptung. Dies ist aber eine zwanghaft anmutende Form der Identitätswahrung: Man wappnet sich gleichsam mit einem Panzer, verschanzt sich hinter absoluten Wahrheiten, verkündet Buchstabentreue, Regelorientierung und so weiter.

Zwischenphase im Modernisierungsprozeß

Der Fundamentalismus ist eine Zwischenphase im Prozeß der Moderne, eine Phase, die nicht nur Risiken birgt. Je nachdem, ob man die ethischen, die kognitiven oder die politischen Dimensionen des Fundamentalismus betrachtet, liegt der Sachverhalt etwas anders.

Zur Einschätzung der ethischen Implikationen des Fundamentalismus empfiehlt es sich, eine längerfristige Perspektive einzunehmen. Ein Blick auf den protestantischen Fundamentalismus — etwa der Wesleyaner im England des 19.Jahrhunderts — zeigt, daß im Verlauf von zwei bis drei Generationen die äußeren Regeln internalisiert werden. In diesem zivilisatorischen Prozeß wird, um auf das oben eingeführte Bild zurückzugreifen, der Panzer durch das Skelett ersetzt. Sozialwissenschaftlich ausgedrückt: Die veräußerlichte Form der Identitätsfindung — der etwas zwanghaftes und gewaltsames anhaftet — transformiert sich im Laufe der Zeit zu einer innengeleiteten Form der Identität. Sie führt zu dem Aufbau des methodischen und systematischen Habitus, den Max Weber als konstitutiv für den Menschen der Moderne sieht.

Die Hinwendung zu einem ethischen Rigorismus und einer asketischen Verweigerung war notwendig zur Selbstbehauptung im Elend, zum Schutz gegen familialen Zerfall, gegen Alkohol und gegen das Verbrechen. Modernitätsgewinner — meist bürgerliche Intellektuelle — haben auch im England des 19.Jahrhunderts die Nase über den Fundamentalismus gerümpft. Die politische Intoleranz, das Spießertum, die Frontstellung gegen Ästhethik und Erotik und schließlich die religiöse Praxis waren Bürgern immer ein Dorn im Auge. Dennoch: Unsere eigene Zivilisation scheint mir ohne den Beitrag des Fundamentalismus zur Herausbildung einer rationalen Lebensführung bei breiten Schichten der Bevölkerung nicht denkbar.

Ähnlich wie der ethische ist auch der kognitive Aspekt des Fundamentalismus zu beurteilen: Er ist der Versuch, ausgehend von Prämissen — den fundamentals — ein systematisches und in sich geschlossenes Weltbild zu konstruieren und durch eine bestimmte Praxis die Welt zu verändern. Es ist die Suche nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Welt sich aus den Angeln heben läßt. Um zu einer Einschätzung zu gelangen, empfiehlt es sich, auch in diesem Fall nicht nur den islamischen Fundamentalismus zu betrachten. Je nach Ausgangsaxiomen können ja verschiedene Fundamentalismen unterschieden werden: Der leninistische Fundamentalismus lokalisierte den archimedischen Punkt ökonomisch im Klassenverhältnis; der feministische Fundamentalismus sozial im Geschlechterverhältnis; der politische Fundamentalismus in der Institutionalisierung; der religiöse im Verlust der religiösen Durchdringung der Welt.

Der kognitive Fundamentalismus entwirft die Welt als Bild. Dieses Bild trägt alle Eigenschaften von Schwarz-Weiß-Malerei — es ist kaum differenziert, unzulänglich und ist gewaltsam wie alle monokausalen Deutungen.

Erinnerung an die eigene Vergangenheit

Bevor man dies jedoch als dumm verwirft, ist es sinnvoll, an eigene fundamentalistische Vergangenheiten zu denken. Entgegen allen Ansätzen, die den Fundamentalismus mit niedrigem Bildungsniveau assoziieren, glaube ich, daß er eine spezifische Faszination vor allem für junge Intellektuelle besitzt. Während der ethische Fundamentalismus eine notwendige Phase in der Herausbildung des innengeleiteten Menschen darstellt, so ist der kognitive Fundamentalismus ein notwendiger Schritt in der Richtung auf Entfaltung der theoretischen Vernunft — wie gesagt, der Panzer verwandelt sich in ein Skelett. Der fundamentalistische Konstruktivismus wird sich im Laufe der Zeit in einen liberalen Konstruktivismus transformieren. Auch hier sei an die Geschichte des Protestantismus erinnert.

Rebellion gegen das stählerne Gehäuse

Am problematischsten — und gefährlichsten — ist der politische Aspekt des Fundamentalismus. Er verknüpft die individuelle Identitätssuche mit der Frage nach der Legitimität des Gemeinwesens. Dies ist nur logisch: Gruppenidentität und individuelle Identität sind untrennbar miteinander verknüpft.

Auch hier handelt es sich um eine zweite Phase: Die algerische Revolution barg, wie nur wenige andere, das Versprechen auf die Herstellung einer vernünftigen gesellschaftlichen Identität. Erst das Scheitern dieses großen Projekts (nicht aber ein fundamentalistischer Zug, der per se im Islam enthalten wäre) führte zu der Auffassung, daß ein islamisches Leben in einem nicht-islamischen Staat nicht möglich ist — der Auffassung, die letztendlich den Wahlerfolg der FIS begründet.

Der Fundamentalismus ist eine Rebellion gegen das stählerne Gehäuse der modernen Gesellschaft, gegen das Ausgeliefertsein an die verwaltete Welt und an die Tyrannei der Sachzwänge. Diese Rebellion ist zum Scheitern verurteilt — sie wird früher oder später veralltäglichen und verbürgerlichen. Dennoch kann der Weg dazu unendlich gewaltsam sein. Werner Schiffauer

Der Autor ist Kulturanthropologe und Privatdozent an der Uni Frankfurt