Ankommen und Abfahren

■ Ein Fotobuch von Max Missmann über Bahnhöfe in Berlin

Neben Waldemar Titzenthaler (1869-1937) und Albert Schwartz (1836-1906) gehört der Berliner Fotograf Max Missmann (1874-1945) zu den produktivsten und genauesten Dokumentaristen der Weltstadt Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Architekturfotograf hat er uns Tausende von fotografischen Dokumenten über das Aussehen und die Atmosphäre der Stadt, soweit sich diese auf Fotos überhaupt ablesen läßt, hinterlassen. Aus der Vielzahl der existierenden Aufnahmen, die aus der Sammlung des Märkischen Museums stammen, hat Wolfgang Gottschalk eine Auswahl herausgegeben, die ausschließlich Berliner Bahnhöfe zum Thema haben.

Wie fast immer, wenn wir Fotos aus der Zeit des beginnenden Wachsens und der Industrialisierung Berlins sehen, überkommt uns eine eigenartige Wehmut über den Verlust dessen, was wir gemeinhin mit Urbanität bezeichnen. Das großstädtische Treiben, die Vielzahl der herumeilenden Menschen, das Fahren von Bahnen, Pferdefuhrwerken, Bussen und Autos, das Dampfen der Schornsteine von Fabriken und Dampfern — all das erinnert uns an die Dichte und Atmosphäre, die wir in Europas Hauptstädten, aber nicht mehr in Berlin finden. Wir denken dabei aber kaum an die Belastungen für die Menschen, an all die Unwägbarkeiten und Behinderungen, die solche Dichte auch immer mit sich bringen.

Beim Durchblättern des als Bildband angelegten Buches mit den Fotografien von Max Missmann haben wir es wieder mit diesem Betrachtungsphänomen zu tun. Das schrille und laute Geräusch ist ausgeblendet, ebenso der Gestank der Autos und sonstigen Dreckschleudern, aber auch die vorlaute Vielfarbigkeit der Leuchtreklame und Schilderwände: alles ist in diesen angenehmen und den Blick auf das Wesentliche lenkenden Schwarzweißtönen gehalten, alles und alle scheinen in der Masse zu verschwinden, in ihr aufzugehen — alles ist diese Masse.

Den Blick lenken: beim Hinsehen und beim Überprüfen der Örtlichkeiten auf den heutigen Zustand hin, müssen wir feststellen, das die städtische Struktur, die Architektur und eben das Verhältnis von baulich- räumlicher Ordnung zu verkehrstechnischer Nutzung uns heute abhanden gekommen zu sein scheint: auch wenn Berlin immer im Umbau begriffen war, ständig wurde und nie war.

Die Straßenräume waren eben deshalb immer auch wirkliche Räume, weil sie als solche gestaltet wurden, die Architekten und für die Gesamtstadt zuständigen Stadtbauräte und sonstigen Planer immer ein Ideal von Stadt verfolgten und nicht bloß Einzelinteressen. Auch wenn dieses Ideal sich an den Gegebenheiten rieb, mit ihnen nicht immer in Einklang zu bringen war — es gab eine Vorstellung davon, wie es sein könnte, wenn die Verhältnisse dieses Ideal zulassen würden.

Max Missmann nun führt uns die Stellen der Stadt vor, an denen sich die verschiedenen Nutzungen mehrfach überlagerten: die Plätze mit den U- und S-Bahnhöfen, die mit den großen Kopfbahnhöfen und eben auch die Trassen für den vielfältigen Schienenverkehr.

Trotz aller verkehrlichen Dichte und des anzunehmenden Gestanks und der wahrscheinlichen Hektik haben die Fotos etwas Ruhiges und Friedliches und ganz und gar Unhektisches. Das mag an den Standpunkten des Fotografen liegen, von denen aus er diese neuralgischen Verkehrspunkte aufgenommen hat: viel Panoramafotos und vor allem überhöhte Blickpunkte. Aufnahmen von Häusern herunter, aus Fenstern.

Damit entrückt er die Betrachtung der Orte vom Blickpunkt des sich durch die Stadt Bewegenden hin zu jemandem, der den Überblick haben will, sich diesen schafft — und sich so auch das Geschehen vom Halse schafft, um zu dokumentieren. Diese Absicht ist noch allen Fotos Missmanns eigen: er ist Sammler und Besessener von Blicken, Chronist und Kronzeuge.

35 Jahre lang, von 1910 bis zu seinem Tode 1945 hat er im Hause Gneisenaustraße 22/Ecke Zossener Straße gewohnt: im vierten Stockwerk befand sich sein Atelier. Und dieser Blick aus einem Eckfenster eines Berliner Mietshauses heraus mag ihn sentimental eingestimmt haben für seine weitere Arbeit.

Was das nun vorliegende Buch betrifft, hat es neben den hervorragend gedruckten Abbildungen einen weiteren unschätzbaren Wert dadurch, das alle Fotos mit erläuternden Bildlegenden versehen sind, die Architekten von Gebäuden benennt, die Geschichte der Örtlichkeit schildert und überhaupt sehr kundig durch die Stadt führt.

Der Essay von dem in Berlin lebenden Autor Peer Hauschild trägt als Einführung eine kleine Geschichte des Schienenverkehrs und der Bahnhöfe in Berlin bei. Martin Kieren

Bahnhöfe in Berlin, Photographien von Max Missmann, 1903-1930 ; Hrsg. Wolfgang Gottschalk, mit Bilderläuterungen und einem Essay von Peer Hauschild; Argon- Verlag 1991, 95 Seiten, 58 DM