Der amerikanische Herbst

Selbst im „liberalen“ New York ist die Friedens- und Oppositionsbewegung angesichts des neuen Hurra-Patriotismus in den USA total demoralisiert/ „Mother Courage Peace Tour“ zog durch die Lande/ Riesenfrust auch bei UNO-MitarbeiterInnen  ■ Aus New York Ute Scheub

Tausende von Stars-and-Stripes- Fähnchen weben die Straße wie in einen dichten Kokon des Patriotismus ein. Die Fenster zwischen den pittoresk verrosteten Feuerleitern sind mit Yellow Ribbons verschnürt, dem gelben Band der „Solidarität mit unseren Truppen“. Der letzte Hauch anarchistischer Aufsässigkeit scheint auch in Little Italy erstickt zu sein, dem alten New Yorker Zufluchtsort verarmter italienischer Pizzabäcker und Cappucinokocher. Wachsen die Gebäude wuchtiger in den Himmel, wachsen auch die Fahnen mit und versperren die Sichtweite. Paar Kilometer weiter in Midtown oder der Eastside Manhattans servieren grinsende Barkeeper „Patriot Missiles Drinks“ in raketenförmigen Gläsern als Mittel gegen extensives Denken. Und hinter dicken Sonnenbrillen verschanzte Straßenverkäufer lassen batteriebetriebene Soldatenpuppen, MG im Anschlag, über das Pflaster schrubben, auf dem schwarze Lumpensammler mit Jahrhunderte altem Blick den zerfetzten Schlagzeilen der Woche — „Hurra für unsere Jungs“ — hinterherjagen. Die Opfer des Krieges sind überall sichtbar, doch niemand sieht sie. America, who's gonna help you?

„Ich muß mich zusammenreißen, nicht auf diese Mörderpuppen draufzutreten“, sagt Bea Kreloff, und ihre schönen großen Augen verengen sich zwischen den Fältchen. Künstlerin, Jüdin, Frauen- und Friedensaktivistin, fühlt sie sich seit einem halben Jahrhundert als natürlicher Teil der großstädtischen New Yorker Opposition. Doch jetzt, sagt sie, hat sie den bösen Verdacht, „50 Jahre umsonst gekämpft zu haben“. Niemals, nicht mal während der ökonomischen Depression in den dreißiger Jahren, sei die Kluft zwischen arm und reich so himmelschreiend gewesen. Und dennoch, oder gerade deshalb, erobern die kleinen Mörderpuppen das Land von allen Straßenecken aus.

Bea versucht trotzdem geduldig, ihr Terrain zu halten. Am Wochenende nach dem Internationalen Frauentag kämpft sie sich mit ihrer zehnköpfigen Neighborhood Women's Group in einer Picket Line und Antikriegsplakaten gegen die gleichgültig strömenden Menschenmassen Manhattans. Eine Passantin lacht, einer applaudiert, und dann fliegen Fetzen wie „Fuck yourself!“ oder „Scheiße, haben wir noch Kommunisten hier?“ oder, schon ganz reduziert, nur noch „Bush! Bush! Bush!“. Zehn, eingeengt in Zehntausenden.

Ziel des kleinen Marsches ist ein Platz im steinernen Herzen von Manhattan. Friedens-, Frauen- und Einwanderergruppen wollen sich zu einer machtvollen Demonstration treffen. 30, 40 Cops umstehen die verlorene Ansammlung von höchstens 200 War Resisters, die mit palästinensischem oder Latino-Akzent verzweifelt versuchen, sich Gehör zu verschaffen.

Vor der UNO zelebriert die Revolutionäre Kommunistische Partei den Frauentag mit einer lächerlichen Kundgebung und lächerlichen Mao- Buttons vor lächerlichen 50 Menschen — weniger, als ihr Aufruf UnterstützerInnen zählte. Aber auch das mit seriösen Namen glänzende Teach In, das Studenten des Hunter Colleges geplant hatten, zieht kaum mehr ZuhörerInnen in den gähnend großen Hörsaal. Ramsey Clark, Ex- General und Ex-Justizminister unter Jimmy Carter, klagt vor dünnbesiedelten Rängen die Bush-Administration des Kriegsverbrechens an, der Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen, Märkten, wie er sie bei seiner Reise in den Irak mit eigenen Augen sah. Wen kümmert's? What the hell do you feel, America?

„Eine schrecklich gefährliche Zeit“

Bea kümmert es, und viele andere. Zu Hunderten sitzen sie nun, weggedrückt vom Mainstream, demoralisiert und deprimiert, in den Nischen der New Yorker Gesellschaft. „Ich habe mich noch nie so geschämt, Amerikanerin zu sein“, sagen sie. Und: „In diesem Land der Pressefreiheit haben wir plötzlich keinerlei Stimme mehr. Der Krieg der Massenmedien war noch viel perfekter als der Krieg der High Tech.“ Oder auch: „Das ist eine schrecklich gefährliche Zeit, denn der nächste Krieg ist jederzeit möglich.“ Sympathisant antipatriotischer Feinde ist schon der, der trotzdem nicht lacht. Zeitenwende in den USA, bleierne Zeit, amerikanischer Herbst.

„Eine Decke des Schweigens erstickt die ganze Nation“, formuliert auch Madre für ihre 23.000 Mitglieder in den USA. Diese multikulturelle Frauenorganisation, bekannt geworden durch ihre Solidaritätsarbeit mit Nicaragua und El Salvador, will ebenfalls nicht aufgeben.

New York ist bald konservativer als Stuttgart

Von Ende Februar bis zum letzten Dienstag zog ihre „Mother Courage Peace Tour“ durch das Land, in beschwörenden Reden warben Irakerinnen, Israelinnen, Palästinenserinnen, schwarze und weiße Frauen für Friedenspositionen und die humanitäre Unterstützung der Kriegsopfer. „Was ist Sieg?", fragen sie. "And what can we say to the Iraqi children?“

Doch die Nation schweigt. Denn wer will schon in einem Land, in dem individueller Erfolg alles ist, zu einer verlorenen Minderheit am Straßenrand zählen? New York, die Weltstadt, Stadt aller Städte, ist in ihrer politischen Szenerie bald konservativer als Stuttgart. Selbst die letzten zwei, drei Punks am berühmten Hippietreffpunkt St. Marks Place verkaufen nur noch schweigend ihre Public-Enemy-T-Shirts, und auch hier drohen die amerikanischen Banner mit neuen Stars-and-Stripes- Wars. „Die USA sind eine untergehende Macht, alle sahen es, alle spürten es“, sagt die friedensbewegte Engländerin Barbara Adams, die die Arbeit von Nichtregierungs-Organisationen bei der UNO koordiniert, „und dann kam der Sieg, und der Patriotismus heilte alle diese Wunden. Dieser Patriotismus ist noch schlimmer als in Großbritannien. Wir Engländer sind wenigstens zynisch, wir mißtrauen Staat und Politikern. Einen Baseballsieg von 62:0 betrachten wir als unfair und langweilig, aber in den USA gibt es eine Tradition des totalen Siegs.“ Und die hat auch im Umfeld der kritischeren UNO-Mitarbeiter in den gläsernen Wolkenkratzern am East River tiefe Depression ausgelöst. Immerhin 2.500 Unterschriften gegen die Umwandlung der UNO zu einem Kriegsinstrument in den Händen der USA hat ein Kirchenfunktionär innerhalb des UNO- Mitarbeiterstabs sammeln können. „Die Frustration über die Rolle der Vereinten Nationen im Golfkrieg ist riesig“, sagt Barbara Adams. „Die Leute sagen, wenn da nichts passiert, sollten wir die UNO besser dichtmachen.“