Frauen als Täterinnen

„Fröhliche Fluchten“ in Nürnberg  ■ Von Bernd Siegler

Auch Feministinnen erinnern an die Trümmerfrauen. Hut ab vor diesen Frauen, heißt es. Aber ich kann nicht darauf verzichten, diese Frauen zu fragen: „Was habt Ihr denn vorher gemacht?“ (Ingrid Strobl)

Es ist Winter, ringsum liegt Schnee, und bald wird es Nacht. Zwei alte Frauen ziehen mit ihrem Leiterwagen durch die Gegend und verkaufen zweifelhafte Souvenirs der großen Täter der deutschen Geschichte — Görings Socken, den Ehering von Adolf und Eva, einen Schemel vom Obersalzberg, Hosenträger von Himmler. Unter all dem Krimskrams finden sie das Tagebuch der Bäckersfrau Johanna Schilling aus den Jahren 1933 bis 1945. Instinktiv schrecken sie davor zurück. Sie wollen es verbrennen, haben aber kein Feuer; sie wollen es vergraben, der Boden ist jedoch gefroren; sie wollen es vergessen — sie kommen nicht davon los. Die Geschichte der Johanna Schilling ist auch ihre Geschichte, die Geschichte vieler Frauen, die sich immer wieder nur als Opfer begreifen, auch wenn sie zu Täterinnen geworden sind. Frauen, die Mitläuferinnen, Profiteurinnen und Akteurinnen sind. Frauen, die „nur“ ihre Pflicht getan haben, Frauen, die ihrer Kinder zuliebe weggesehen haben, Frauen, die alles getan haben, was ihnen möglich war.

Mit ihrem Stück Fröhliche Fluchten hat die freie Theatergruppe „theater ACT Nürnberg“ thematisch Neuland betreten. Es geht ausschließlich um die ganz normalen, alltäglichen Täterinnen. Deswegen haben die beiden alten Frauen auf der Bühne weder Namen noch Geschichte. „Wir wollen den Mythos aufbrechen, daß die Frau die bessere Hälfte der Menschen ist, weil sie das Gefühl hat, die Weichheit, die Sanftheit, das Dienende“, sagt die Schauspielerin Sabine Zieser. Sie will nicht immer nur Frauen als Opfer der patriarchalischen Gesellschaft und ihrer Strukturen darstellen. Die Autorin Gabriele Quast will erreichen, daß es für Frauen nicht darum gehen kann, „sich als Frau auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu beteiligen und anzupassen, sondern immer dabei nach Inhalten zu fragen“.

Das Tagebuch der Johanna Schilling verschafft Einblick in die Schuld einer Denunziantin, gibt den Kleinmut einer Frau im NS-Regime preis, schildert Alpträume einer Mitläuferin und Wunschträume einer Frau, die dazugehören will. Johanna Schilling ist eine Frau, die nach Kriegsende „unter lauter Befehlen nach sich selbst sucht“, die, während draußen Friede ist, in sich den Krieg weiter toben spürt.

Die beiden Alten schlüpfen auf der Bühne in die Rolle der Johanna Schilling, sind entsetzt, erschrocken, aber auch begeistert, fanatisch, glücklich. Das Publikum bleibt bei diesen Rollenwechseln manchmal irritiert zurück, kann nur schwer nachvollziehen, wer jetzt gerade wer ist. Doch darauf kommt es auch nicht an, denn die beiden alten Marketenderinnen finden sich selbst in der Geschichte der Johanna Schilling wieder und gehen darin auf. Sie spüren dabei, daß eine Flucht vor der eigenen Vergangenheit nicht möglich ist.

„Fröhliche Fluchten“ von Gabriele Quast. theater ACT Nürnberg. Regie: Michael Schramm. Mit Sabine Zieser, Gabriele Quast.

Weitere Vorstellungen: 19.-21.11. in Nürnberg (Tafelhalle); 16., 17.11. in Erlangen (Theater in der Garage); 29.11.-1.12. in Fürth (Schlachthof).