Selbstmordrate war im Osten höher

■ Aber vorschnelle Rückschlüsse auf die politische Situation sind nach Expertenansicht unzulässig

Berlin (taz) — Die Selbstmordrate in der DDR lag in den letzten Jahren um runde zehn Prozent höher als in der Bundesrepublik.

Das geht aus der taz vorliegenden Zahlen hervor, die einer breiteren Öffentlichkeit bisher vorenthalten wurden. Denn die östlichen Suizidraten wurden früher als geheime Verschlußsache behandelt.

Nach diesen Statistiken haben sich im Jahre 1987 insgesamt 3.295 Männer und 1.740 Frauen in der DDR umgebracht. Das waren 41,6 beziehungsweise 19,6 von 100.000 EinwohnerInnen. 1988 sank die Suizidrate in der DDR auf 39,7 beziehungsweise 18,1.

In der BRD hingegen waren es im Jahre 1987 „nur“ 7.836 Männer und 3.763 Frauen und 1988 insgesamt 7.369 Männer und 3.446 Frauen, die sich nicht mehr anders, denn durch Selbstmord zu helfen wußten — das entsprach einer Rate von 26,7 beziehungsweise 11,8 im vorvorletzten und 25,0 beziehungsweise 10,8 im vorletzten Jahr. Die Zahlen aus dem Revolutionsjahr 1989 sind der taz nicht bekannt.

Doch Michael Witte von der auf Suizidprävention spezialisierten Beratungsstelle „Neuland“ in West- Berlin warnt vor vorschnellen Interpretationen: „Sämtliche Zahlen und Statistiken sind nur unter großen Vorbehalten zu sehen.“ Der Schluß, Stalinismus und Mauerbau habe die Leute in den Tod getrieben, sei auf jeden Fall völlig daneben. Das belege schon der „erstaunliche“ Umstand, daß die Selbstmordrate in Ost-Berlin wesentlich geringer sei als in West- Berlin.

Politische Umstände hätten ihrer Erfahrung nach eine sehr geringe Auswirkung auf die Entstehung von Suizidwünschen. „Der eigentliche Kern“ eines späteren Selbstmords liege vielmehr im „Verlust von Beziehungen“ begründet, oftmals gepaart mit „frühkindlichen Erfahrungen von Verlassensein und Liebesmangel“.

Auch für einen Fachmann wie Michael Witte nicht recht erklärbar ist die Konstanz der Raten in den verschiedenen Regionen. Die Gefahr, in eine depressive Krise mit anschließendem Selbstmord zu geraten, sei unter den deutschen Städten in Köln am geringsten — und zwar über Jahrzehnte. Umgekehrt hätten sich in Sachsen und Thüringen schon immer, „ob mit oder ohne Mauer“, mehr Menschen als anderswo umgebracht.

Daß sich gut doppelt so viel Männer als Frauen „erfolgreich“ umbringen, während umgekehrt Frauen ungefähr doppelt so viel Selbstmordversuche machen wie Männer, liegt laut Witte neben vielen anderem auch daran, daß Männer „eher an ihrer Rolle scheitern, während Frauen Dritten eher eine Chance einräumen.“ Jeder Selbstmord sei ja ein Schrei nach Hilfe und — in nur scheinbar paradoxer Weise — auch ein Schrei nach Leben. Ute Scheub