Ein Deutschland - „im großen Haus Europa“

Der Bundeskanzler ist kein schneller Denker und beileibe kein großer, aber eines darf man ihm nicht bestreiten: Er ist lernfähig. Knapp drei Wochen nach Kohls Debakel vor dem Schöneberger Rathaus, der Blamage in „historischer Stunde“, haben seine Berater ihn zur Fasson gebracht. Von Politik auf dem Oggersheimer Niveau des Deutschland-Lieds jedenfalls war kaum noch etwas zu hören in der programmatischen Rede, mit der der Kanzler die deutschlandpolitischen Pläne seiner Regierung darlegte. Sein Zehn-Punkte-Programm erntete keine Buhs und Pfiffe, sondern standing ovations der Parteigenossen, doch mehr noch als dieser warme Beifallregen dürfte den Kanzler entzückt haben, was der ihm folgende Oppositionsredner von sich gab: Alt-Juso Karsten Voigt konnte nämlich nicht umhin, seinem Kanzler in allen zehn Punkten zuzustimmen. Was war da passiert?

Bis tief in die Nacht war am Montag abend das Bundeskanzleramt hell erleuchtet, Redenschreiber und PR -Strategen suchten nach den Vokabeln, mit denen aus dem Buhmann der Nation wieder ein vorzeigbarer Regierungslenker gezaubert werden könne - und sie wurden fündig. Kohl schlug nicht die „Wiedervereinigung“, sondern „konföderative Strukturen“ zwischen beiden deutschen Staaten vor, er redete nicht von der „nationalen Einheit“, sondern von der „Architektur Gesamteuropas“. Kein einziges Mal stand die „Wiedergewinnung der nationalen Einheit“ allein, stets war sie eskortiert von „europäischer Integration“, „europäischen Anliegen“ und „europäischer Einheit“. Der Trick ist so einfach wie genial: Mit „Europa“ als Katalysator kann jeder Wiedervereinigungsmief als umweltfreundlich verkauft werden, sogar manch rechtsextremer Grenzverächter könnte deshalb aufgehorcht haben, als Kohl formulierte: „Die EG darf nicht an der Elbe enden.“ Auch was die Pingeligkeit der Kohlschen „Vorbedingungen“ für finanzielle Unterstützung der DDR angeht, hat man den Kanzler mittlerweile rhetorisch aufgerüstet. Unter der Forderung nach Etablierung der Marktwirtschaft versteht Kohl „keine Vorbedingungen, sondern sachliche Voraussetzungen, damit unsere Hilfe überhaupt greifen kann.“ Das klingt natürlich ganz anders als „Bedingungen“, auch wenn es nicht mehr bedeutet, als wenn „Brot für die Welt“ die Einführung von Messer und Gabel in freier Selbstbestimmung zur Voraussetzung erklärt. Aber der Kanzler kam durch mit seiner Rede - die CDU, die nach den „Willy, Willy„-Rufen vom 9. November und Mompers Blitzaufstieg vom Niemand zum Staatsmann schon ihre Felle wegschwimmen sah, hat dank Europa das deutschlandpolitische Heft wieder in die Hand gekriegt. Und da kann die Aufforderung von Jutta Oesterle-Schwerin - „Finger weg von der DDR“ - nur kleinlich wirken: Die Herren in Bonn bauen am großen Haus Europa, wer kann da an eine Zwangsmodernisierung der Rumpelkammer DDR denken?

Mathias Bröckers