"Sehhunde" und Blinde

■ Sehende und blinde und sehbehinderte SchülerInnen haben angefangen, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen

Wannsee. Immer wieder sind leicht scheppernde Töne zu hören. Die verschiedenen Tonhöhen überlagern sich, bilden verwirrende, unregelmäßige Rhythmen. Aus einem mit Wasser gefüllten Trichter führt ein dünner Schlauch, der sich an einem Verbindungsstück verzweigt. Aus den beiden Verlängerungsstücken tropft die Flüssigkeit auf der einen Seite auf einen umgedrehten Eimer, auf der anderen auf einen Metalldeckel. Die Konstruktion, die die Geräusche verursacht, mit einem Blick zu erfassen, ist für Sehende kein Problem. Sie mit Worten einem Blinden zu erklären, schon eher.

Die eigene Sprachlosigkeit war eine der Erfahrungen, die zwei neunte Klassen während einer gemeinsamen Woche im Wannseeheim für Jugendarbeit machten. Thema war eigentlich die Umwelt. Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit den Bereichen Wind, Lärm oder Wasser, wobei unter anderem die Tropf-Konstruktion entstand. Doch nebenbei ging es um sehr viel mehr: Im Projekt „Sehhund“, dem Spitznamen der Blinden für Sehende, lernten die Schülerinnen und Schüler vom Tempelhofer Luise-Henriette-Gymnasium und der Brandenburgischen Schule für Blinde und Sehbehinderte sich und ihre Barrieren im Umgang miteinander kennen.

Nach den Worten der Organisatorin Renate Giese ist die Aktion einzigartig, weil beide Klassen gemeinsam etwas veranstalten. Ihr Kollege Gerhard Belitz vom Königs Wusterhausener Internat ist froh über diese Form. Denn Besuche bei den Jugendlichen gingen mit dem Ausstellungscharakter eines Zoobesuches häufig auf Kosten der Blinden. Und umgekehrt bedeute es für seine SchülerInnen eine Herausforderung, aus ihrem behüteten und beschützten Umfeld herauszukommen.

So war die Woche für beide Seiten eine Herausforderung. Doch vor allem die Sehenden hatten zunächst besonders mit den Anforderungen zu kämpfen. „Am Anfang waren wir ganz verkrampft“, sagt Alex, „um bloß nichts Falsches zu sagen.“ Selbst Fluchtversuche, bei denen den sehenden Gymnasiasten plötzlich dringende Gründe einfielen, zwischendurch zu Hause vorbeizuschauen, registrierten die BetreuerInnen. Doch allmählich lernten die Tempelhofer, daß die blinden SchülerInnen nicht aus Glas sind oder mit besonderer Vorsicht angefaßt werden müssen (und daß sie die besten Blindenwitze kennen). Vorurteile und Berührungsängste verschwanden: „Oft denkt man, das sind ganz hilflose Menschen“, erzählt Mirko. „Dabei können die manche Sachen viel besser als wir.“

Deutlich wurde das zum Beispiel in einer Gruppe, die ein Hörspiel fertigte. Während die sehenden Mitglieder sich kaum trauten, das Tonstudio auszuprobieren, jonglierten die beiden blinden Schüler schon nach kurzer Zeit mit Reglern und Kassetten und komponierten munter drauflos. In anderen Arbeitsgemeinschaften, in denen gebastelt wurde, mußten dagegen oft die Blinden warten, bis Arbeit für sie abfiel. Zusammenarbeit war bei einer Waldrallye gefragt, bei der die Zettel mit den Aufgaben an Bäumen hingen und die Fragen in Blindenschrift gedruckt waren.

Nach den anfänglichen Hemmschwellen, aufeinander zuzugehen und gemeinsam die alltäglichen Kniffeligkeiten beim Spazierengehen oder Essen zu bewältigen, fielen auch die Sprachbarrieren bei tiefschürfenderen Themen. Eigentlich seien die Sehenden arm dran, argumentierten die Königs Wusterhausener. Schließlich würden die meisten selbst zugeben, daß sie sich beim Kennenlernen oder Verlieben von reinen Äußerlichkeiten nicht freimachen können. Die Blinden dagegen müßten und könnten sich auf innere Werte verlassen.

Für Alex und Mirko hat sich die Woche gelohnt – und das nicht nur unter dem pädagogischen Gesichtspunkt, in Zukunft besser mit blinden Menschen umgehen zu können. „Wir haben das Lernen mit Spiel und Spaß verbunden“, meint Mirko ganz abgeklärt. Auch die sehbehinderten Jana und Swetlana würden gerne noch eine Woche dranhängen. Aber die meisten neuen Erfahrungen, meinen sie, haben die Sehenden gemacht. Daß eine Woche wirklich ausreichen kann, langfristig etwas zu bewegen – da ist Jana skeptischer als die sehenden SchülerInnen. Ob der Kontakt zwischen den SchülerInnen aufrechterhalten bleibt und die Isolation der Blinden ein wenig aufbricht? „Ich wünsche es mir, aber ich glaube es eigentlich nicht.“

Auch für die PädagogInnen haben sich nicht alle Ansprüche, die sie mit der Aktion verbanden, erfüllt. Bei der Vielzahl von Themen – von Naturerfahrungen über Auseinandersetzungen mit Behinderung und den Gegensatz von Ost- und Westdeutschen – waren eher kleine Schritte angesagt. Ein Erfolg sei die Veranstaltung auf jeden Fall gewesen, meint Renate Giese. Und ein Anfang, der im nächsten Jahr mit anderen SchülerInnen fortgesetzt werden soll. Stefan Niggemeier