Wir und die sind wir

Wenn Journalisten sich über Internet-User beschweren, die kommentieren, diskutieren und publizieren – dann haben sie nicht weit genug gedacht

STEFAN NIGGEMEIER, 38, Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, bloggt auf bildblog.de und stefan-niggemeier.de. Die Firma Callactive, die Anrufshows produziert, erwirkte wegen unzulässiger Kommentare von Usern seiner Seite zwei einstweilige Verfügungen gegen ihn. Als er vor kurzem im Urlaub war, schaltete er die Kommentarfunktion vorübergehend ab – notgedrungen.

VON STEFAN NIGGEMEIER

Vielleicht ist die härteste Erkenntnis für Journalisten die, für wen man da arbeitet. Dass das Publikum zu einem großen Teil aus Menschen besteht, die ahnungslos sind, die Brisanz eines Artikels nicht begreifen, seinen Kern missverstehen und rhetorische Fragen beantworten. Die voreingenommen, ungerecht und unreflektiert sind, meistens verbohrt, manchmal fanatisch, bestenfalls desinteressiert.

Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Aber bislang hatte man die Möglichkeit, Leserbriefschreiber, die mit ihrer Ignoranz und Penetranz das schöne Bild von den aufgeklärten, kultivierten Rezipienten der eigenen Werke störten, für eine untypische Minderheit von Berufsnörglern zu halten. Und wie blöd sie waren, blieb vielen verborgen, denn auf die Leserbriefseite kamen nur handverlesene Beiträge.

Die Illusion ist dahin. Jeder kann seine Meinung heute fast ungefiltert ins Netz schreiben, und das Ergebnis gleicht keiner gepflegten Podiumsdiskussion, sondern eher einer Auseinandersetzung in einer Kneipe, in der viele Promille nach einem Fußballspiel Anhänger verschiedener Mannschaften aufeinandertreffen. Das ist selten schön mit anzusehen, und irgendwie kann man nachvollziehen, dass vor allem Journalisten sich wünschen, dieses Krakeele fände wieder irgendwo statt, wo es niemand mitbekommt, insbesondere nicht man selbst. Da mischt sich die Enttäuschung über die Unwürdigkeit des Publikums mit der über den Verlust des Monopols, zu publizieren.

Aber ist die Ursache des Problems wirklich die Tatsache, dass im Zeitalter des Web 2.0 oder Mitmachnetzes jeder, auch ohne Fähigkeiten oder professionelle Standards, publizieren darf? Die publizistischen Hürden im Printbereich liegen wesentlich höher. Aber wer zum ersten Mal in einen Bahnhofskiosk kommt, könnte schon eine Weile suchen müssen, bis er ahnt, dass es Zeitschriften gibt, die nicht nur Fotos von sekundären Geschlechtsorganen, Märchen über Prominente und gesellschaftlich irrelevante Fachinformationen für unfassbar kleine Zielgruppen veröffentlichen. Und es ist das Fernsehen, das Medium mit den immer noch höchsten Mitmachbarrieren, das aus dem Hütchenspiel in der Fußgängerzone ein Millionengeschäft für Sender wie 9Live gemacht hat. Warum gerät das Buch nicht in Verruf durch die ungezählten Schundromane und all die unlesbaren Traktate, die nur geschrieben werden, um den Autor selbst glücklich zu machen?

Kritiker des Internets argumentieren genau so. Die Süddeutsche Zeitung verbindet Ahnungslosigkeit, Lernresistenz und Penetranz, um sich zum Sprachrohr der Internetphobie zu machen, die genau diese Unarten beklagt. Bernd Graff, Kulturchef des Onlineablegers der Zeitung, leiht sich das höchstverfügbare Ross und klettert aus dem Sumpf, in dem er täglich anklickbaren Müll produziert, kurz hinauf, um von ganz oben einen inhärenten Qualitätsgegensatz zwischen Tageszeitung und Internet zu behaupten.

Warum der zwingend sein soll, erklärt er nicht, außer durch den Satz: „Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen.“ Jeder Idiot darf Journalist werden, das garantiert das Grundgesetz, und viele werden es auch, das kann man Tag für Tag in den „etablierten“ Medien nachvollziehen. Und, richtig: Im besten Fall wird Fehlverhalten sanktioniert. Im Regelfall aber bleiben Lügen, Fehler, Versäumnisse und Manipulationen unkorrigiert und ungesühnt.

Doch aus den diversen Angriffen auf das Web 2.0 in diesen Tagen spricht nicht nur Arroganz, sondern auch ein Minderwertigkeitskomplex: die Annahme, dass sich fundierte, kluge Gedanken nicht mehr durchsetzen gegen all die Beliebigkeiten und Dummheiten, die nun von jedem verbreitet werden können. Dass das Publikum Relevanz und Zuverlässigkeit oft nicht goutiert, ist keine Frage – aber kein internetspezifisches Phänomen: Bild verkauft täglich fast zehnmal so viele Exemplare wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und die „Tagesthemen“ werden sich immer schwertun gegen „Explosiv“. Aber nichts spricht dafür, dass die Menschen im Internet neben dem ganzen Gequatsche nicht auch Relevanz suchen und finden – und Autoritäten, denen sie vertrauen. Das können ausgebildete Journalisten sein, aber auch ganz andere.

Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, dass all die Leute, die nun als Mini-Publizisten haltlose Interpretationen des Weltgeschehens in ihre Webcams sprechen, gleich die Meinungsführerschaft beanspruchen. Was sie beanspruchen, ist Teilhabe: eine Stimme von vielen zu sein. Und das ist nichts weniger als das, was als Freiheit des Einzelnen, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten, ein zentraler Wert unseres Gemeinwesens ist, bislang aber mangels technischer Möglichkeiten oft Theorie blieb.

Aus den Angriffen auf das Web 2.0 spricht ein Minderwertigkeits-komplex

Das bedeutet nicht, dass die Demokratisierung des Publizierens nicht gravierende Probleme mit sich brächte – es ist leichter geworden, andere zu verleumden und gezielt oder fahrlässig zu desinformieren. Und der tägliche Kampf gegen die Kakophonie des Wahnsinns ist nervenaufreibend. Aber es hilft nicht, wegzusehen, im Gegenteil: Man muss hinsehen und findet an so vielen Stellen in Diskussionen und Blogs, bei YouTube und in der Wikipedia Unmengen Belege dafür, dass die Massen klug sein können, und dass es in der Masse Stimmen gibt, die es verdienen, gehört zu werden.

Manchmal scheint es, als sei den Journalisten, die gegen dieses Mitmachnetz anschreiben, schon die Motivation all dieser neuen Konkurrenten um Aufmerksamkeit suspekt: einfach zu glauben, etwas zu sagen zu haben, und es nicht für Geld, Auflage, Karriere oder den Verkauf von Werbeplätzen zu tun. Und wenn SZ-Mann Graff über die Amateurpublizisten schreibt: „Sie zetteln Debattenquickies an, pöbeln nach Gutsherrenart und rauschen dann zeternd weiter. Sie erschaffen wenig und machen vieles runter“ – dann ist es schwer, in dieser Formulierung nicht eine exakte Beschreibung dessen zu lesen, was den ach so professionellen Journalismus heute weitgehend ausmacht.

Das große Versprechen der Demokratisierung des Publizierens ist nicht die Herrschaft der ahnungslosen Masse. Es ist die Chance, die Vorteile der professionalisierten Wissensproduktion mit der Intelligenz der Masse zu kombinieren. Es gibt keine Notwendigkeit, das Wir gegen Die auszuspielen oder sich für eines von beiden entscheiden zu müssen. Google arbeitet an dem Wissensprojekt Knol, das der genaue Gegenentwurf zum Wikipedia-Prinzip ist: Einzelne Experten bürgen für die Qualität der Lexikoneinträge mit ihrem Namen, und alles spricht dafür, dass Knol und Wikipedia sich gegenseitig befruchten werden. Der Spiegel bringt im Netz sein Archiv mit den Bertelsmann-Lexika und dem Wikipedia-Wissen zusammen. Und auf Bildblog.de leben wir davon, auf den Wissensschatz unserer Leser zurückgreifen zu können, ohne darauf verzichten zu wollen, deren Hinweise auf Lügen, Dummheiten und Zumutungen der Bild-Profis mit unserem Handwerkszeug als Journalisten zu überprüfen, auszuwählen und aufzupolieren.

Und anders als viele Negativerscheinungen ist diese Form der Kooperation tatsächlich eine Eigenart des Mediums Internet.