Weniger wäre ein Versagen

ROT Farbe der Aggression, Verführung, Maßlosigkeit. Monochromes Adventsdinner, Teil 3

■ Zuerst: Rote-Beete-Zaziki: gekochte Rote Beete mit Zucker, Salz, Essig, Öl, Pfeffer, Knoblauch würzen, Schmand unterrühren. Rotkohlsalat: über Rotkohl einen Sud aus angedünsteten Zwiebeln, Rosinen, Orangensaft gießen, dazu Ingwer, Salz, Pfeffer, Cumin und Orangenscheiben. Rote-Beete-Salat: Rote Beete mit Stangensellerie, Knoblauch und Dressing.

■ Dann: Rote Paprika gefüllt mit Hackfleisch, rotem Reis, Zwiebeln, Rosinen, Pinienkernen, Salz, Pfeffer, Knoblauch. Vegetarisch: statt Fleisch mehr Pinienkerne. In Tomatensauce Wein-Apfelsaft-Sauce lange einköcheln.

■ Danach: Kornelkirschsorbet mit heißer Cranberry-Apfel-Sauce und Kürbis-Cranberry-Karamellkuchen (gekocht und gebacken nach Gefühl).

TEXT WALTRAUD SCHWAB
FOTOS DAVID OLIVEIRA

Rot ist die Liebe / Rot ist das Blut / Rot ist der Teufel in seiner Wut.

Rot soll es sein, das Essen, das es am dritten Advent gibt. Im roten Wedding findet es statt. In einem rot gestrichenen Haus. In einem Zimmer mit rotem Teppich, roten Vorhängen, rotem Sofa. Gekocht von einer mit roten Wangen, roten Lippen, rotem Haar, mit roter Schürze.

Nein, das wussten die Gäste nicht, dass Frauen sich bei Vorstellungsgesprächen nicht rot kleiden sollen. Bedeute es doch, dass die, die sich rot gekleidet vorstellt, mit jenen konkurrieren will, die sie einstellen sollen. Keiner macht der Köchin die Farbe der Schürze streitig.

„Rotes Haar und Erlenhecken wachsen nicht auf guten Flecken.“

Rot, das ist eine Kriegserklärung. Dieses Essen wird eine Anmaßung. Opulent, überbordend, maßlos. Weniger wäre ein Versagen. Was rot ist, muss reichen für eine Fülle, die von außen voll ist und von innen heiß. Das Essen muss ausschweifend sein und extrem, exzessiv, scharf.

Aber. Kein Aber.

Das Unmäßige muss mit Tomaten geschehen, mit Paprika, Peperoni, Blutorangen, Rote Beete, Kornelkirschen, Granatäpfeln. „Weibliches Essen“, sagt einer der Gäste. Weil kein rohes Fleisch dabei ist? Es hätte dabei sein können. Einmal floß Blut. Tropfte aus dem Finger.

„Nur ein guter Seemann sticht auch ins rote Meer.“

Als Schneewittchen, als Rotkäppchen möchte kein Mädchen der Ozean sein, auf dem dieser Schiffer unterwegs ist. Rot, das ist die Farbe der Entjungferung. Und der Gewalt. Feuer. Explosion. Das Essen muss brennen. Ingwer, Knoblauch, Salz – weiß wie Schnee, Chili – rot wie Blut, Pfeffer – schwarz wie Ebenholz.

Aber halt, stopp! Rot ist auch Verführung. Es kann schön sein, verführt zu werden. Ein Liebesessen soll es werden. Anfangen mit der Vorspeise: ein Salatbouquet aus Rote Beete mit Stangensellerie und Knoblauch, dazu Rotkohl mit Rosinen, Orangen und Ingwer und Rote-Beete-Zaziki – alles zwischen Pink und Burgunder. Der Tomatensalat, der es abrunden sollte, wird als Spielball dazu gelegt. Beim Essen laufen die Saucen, die aus den Salaten tropfen, wie ein rotes Meer rot zusammen. Es wird vom Teller getrunken. Der, der Rote Beete für Frauengemüse hielt, weil Frauen bluten, sagt: „Ich wusste nicht, dass sie so gut schmecken.“

Die roten Gespräche, die die Gäste um den Tisch dazu führen, kommen im Indikativ. Rot ist. Rot verträgt kein Sei, kein Wäre. Es ist Muss, Kann, Soll – nicht Müsste, Könnte, Sollte. Rot ist kein leeres Blatt, keine weiße Leinwand.

Gewalt. Feuer. Explosion. Dieses Essen muss brennen. Ingwer, Knoblauch, Salz – weiß wie Schnee, Chili – rot wie Blut, und der Pfeffer – schwarz wie Ebenholz

Einer Freundin am Tisch fällt Freud ein. Nach ihm gibt es zwei Triebe, in deren Spannungsfeld die Menschen ihre Gefühle in den Griff bekommen sollen: Eros und Thantanos – Verschmelzung und Aggression, Liebes- und Todestrieb. Beide sind rot.

Die Gier ist es auch. Der Hauptgang: gefüllte Paprika in Tomatensud. Das Fleisch darin – gekocht, nicht roh, Kultur, nicht Natur, gezügelt, nicht enthemmt. Blutampfer zur Verzierung. Der rote Faden: keiner.

An der Stelle setzt die Katharsis ein. Über die rote Farbe zu reden, bringt nicht weiter. Aber darüber, wo man rot sieht: Bei Liebhabern, die einen verlassen. Computerprogrammen, die sich selbst zum Erlöschen bringen. Bei Politikern, die in eigener Sache unterwegs sind. Bei Bankern, die in eigener Sache unterwegs sind. Und dann der Höhepunkt – unser Metier: Zeitungsmacher, die in eigener Sache unterwegs sind. Kollegen und Kolleginnen, die in eigener Sache unterwegs sind. ChefredakteurInnen, die in eigener Sache unterwegs sind. Ich, die in eigener Sache unterwegs ist. Du, der in eigener Sache unterwegs ist. Er, sie, es, die in eigener Sache unterwegs sind. Wir, die in eigener Sache unterwegs sind. Ein Aderlass. Am Ende sind alle gereinigt. Es geht ums Menschsein. Hört noch jemand zu?

Adam, der Stammvater der Menschen im Alten Testament wurde aus „adamah“ geschaffen, aus roter Erde. Im Hebräischen verbergen sich in „Adam“ die Worte „Mensch“, „rot“ und „Blut“.

Das Dessert muss jetzt, wo alle Energien entladen sind, den ermatteten Geist umhüllen wie ein Abendrot, das sich endlos hinzieht, als wäre die Sonnenwende eine weiche Decke aus Seide: Kürbiskaramelltorte mit Cranberry-Apfel-Sirup und Kornelkirschsorbet. Egal, wie unperfekt es auf dem Teller liegt. „Oh nein“, sagt eine, die nicht mehr kann. Oh ja.