Manchmal verschwinden sie einfach

SOZIALARBEIT Mädchen, die aus ihren Heimatländen fliehen mussten, haben zusammen mit Berliner Jugendlichen, der Videokünstlerin Branka Pavlovic und dem Verein Gangway einen Dokumentarfilm gedreht. „Our story“ bietet Einblicke in einen fast normalen Alltag, überschattet von Verlust und Angst

■ Gangway e. V. bietet Straßensozialarbeit mit und für Jugendliche und Erwachsene in fast allen Berliner Bezirken an. Senat und Bezirke fördern den Verein, den es schon seit 1990 gibt. Die Gangway-Teams unterstützen Menschen dabei, ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. In Lichtenberg hat Gangway zum Beispiel kürzlich das Jugendcafé Maggie eröffnet. Hier können sich junge Leute treffen, Ideen oder Hilfe holen und es gibt immer wieder Veranstaltungen – unter anderem Filmabende: Ob der Film „Our story“ hier noch mal gezeigt wird, steht derzeit noch nicht fest, wird aber auf der Website www.gangway.de angekündigt.

VON ANNA BORDEL

An diesem Abend hat sich Djana Barjamovic ganz spontan dazu entschieden, für die Gäste zu singen. Das Café „My Moon“ in Reinickendorf ist gut gefüllt zur Filmpremiere, viele müssen sogar stehen, das Licht ist schummrig. Barjamovic in ihrem knallroten Kleid ist aufgeregt. Aber dass sie unbedingt singen will, das weiß sie. Die 13-Jährige stellt sich mit verschränkten Armen auf die Bühne und trägt ein Lied auf Bosnisch vor. Langsam ist es und traurig – im Saal wird es jetzt still.

Die junge Bosnierin spricht Arabisch, Englisch, ein bisschen Deutsch und Schwedisch, weil sie in Schweden drei Jahre lang gelebt hat, bevor sie nach Berlin kam. Warum sie richtig Deutsch lernen soll, versteht Djana aber nicht: „Wir gehen wahrscheinlich bald wieder, wozu soll ich jetzt Deutsch lernen?“, fragt sie. Singen will sie, auf Bosnisch und Englisch und ganz egal wo.

Vor etwa einem Jahr ist Djana mit ihren Eltern und den sieben Geschwistern in ein Flüchtlingsheim in Reinickendorf gekommen, sie sind Asylsuchende aus Bosnien-Herzegowina. Dass sie in Deutschland Asyl bekommen, wird immer unwahrscheinlicher. Denn Bosnien gilt seit der Asylrechtsreform vom November als „sicheres Herkunftsland“.

Die vielen Jugendlichen in den Berliner Flüchtlingsunterkünften haben Sozialarbeiter vom Straßensozialarbeits-Verein Gangway auf den Plan gerufen. Sie arbeiten in fast allen Bezirken mit Jugendlichen zusammen, die viel Zeit auf der Straße verbringen. Das Team aus Reinickendorf hat im April begonnen, Jugendliche aus den Flüchtlingsunterkünften mit gleichaltrigen Berlinern zusammenzubringen. Präventiv sozusagen: Damit es nicht zum Streit kommt, wenn sie sich auf der Straße treffen.

Die Jungs spielen Fußball

Für die Jungs haben sie eine Fußball-Liga gegründet, in der geflüchtete Jugendliche mit Berliner Jugendlichen zusammen spielen. Die Mädchen wollten aber nicht Fußball spielen, erzählt Marcel Mili vom Reinickendorfer Gangway-Team. Also haben sie etwas anderes für sie organisiert: Kameras, einen Rapper und Branka Pavlovic.

Pavlovic ist Filmemacherin und Videokünstlerin. Eine Mitarbeiterin von Gangway bat sie um Unterstützung und so kam es, dass sie mit den Mädchen einen Dokumentarfilm gedreht hat: „Our story“. Es ist ein Zusammenschnitt aus dem Alltag von geflüchteten und Berliner Jugendlichen, den sie selbst gedreht, gefilmt und geschnitten haben und für den sie einen Rapsong geschrieben und aufgenommen haben. Heute Abend ist im „My Moon“ Premiere. Die Filmemacherinnen und ihre Eltern sind da, Gangway-Teams aus anderen Bezirken, Jugendliche aus Reinickendorf. Es gibt Reis mit Hühnchen für alle.

Passkontrolle ist nur Kunst

Und während man auf den Beginn des Films wartet, tippt einem jemand auf die Schulter: „Passkontrolle, haben Sie einen Ausweis dabei?“ Sollte man haben, beim Einlass wurde er schließlich verteilt – und da ist er auch: „Das ist Ihr Reisepass, der es Ihnen erlaubt, sich in dieser für Sie zugewiesenen Unterkunft aufzuhalten. Wenn Sie diese verlassen wollen, benötigen Sie eine Sondergenehmigung“, steht darin. Auch einen Stempel gibt es. Doch hier ist die „Ausweiskontrolle“ nur eine Kunstaktion – aber ein unangenehmes Gefühl erzeugt sie dennoch.

In jedem Winkel von „My Moon“ ist am Premierenabend Taner Avci zur Stelle. Der Mitarbeiter von Gangway begrüßt jeden mit Küsschen, erklärt, wie der Abend verläuft, strahlt, weil so viele Zuschauer gekommen sind, und mahnt einige Jungs, nicht zu schnell im Keller bei den Spielkonsolen zu verschwinden. Er ist der „große Bruder“, wie viele hier sagen.

„Wir gehen wahrscheinlich bald wieder, wozu soll ich jetzt Deutsch lernen?“

DJANA BARJAMOVIC, ASYLSUCHENDE

Taner sagt, am schwersten bei der Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen sei die Tatsache, dass sie manchmal einfach verschwänden – von einem Tag auf den anderen. Abgeschoben. Von denen, die beim Filmprojekt mitgearbeitet haben, waren es zwei. Dann beginnt der Film. Er zeigt Alltägliches aus dem Leben junger Menschen: Sie gehen Go-Kart fahren, shoppen, kochen gemeinsam und ärgern sich. So weit ganz normal. Nur sind da zwischendurch diese Schnipsel von Geschichten, die eben nicht die von x-beliebigen Jugendlichen sind.

Die Irakerin Maryam zum Beispiel, die mal in Syrien gelebt hat und Übersetzerin werden will, hofft noch immer, dass ihr Vater bald nachkommt. Majda erzählt an einer Stelle, wie sehr sie ihre beste Freundin in Bosnien vermisst. Sie könne aber nicht nachkommen, weil ihre Familie kein Geld habe. Um nach Deutschland zu flüchten, bräuchte man eben welches. Oder Ayla, die sagt, dass ihr Bruder mit 18 aus dem Berliner Flüchtlingsheim nach Bosnien zurückkehren musste. Darüber, wie sehr er ihr fehlt, rappt sie in „Our Story“ ein Lied. Djana singt dazu den Refrain.

Es ist ein glanzvoller Abend im Café „My Moon“. Die Mädchen sind stolz auf ihren Film, bekommen Geschenke und Blumen vom Gangway-Team. Dem war es wichtig, dass an diesem Abend viele Vertreter aus dem öffentlichen Leben kommen, wie der Integrationsbeauftragte aus Reinickendorf. Manche schauen nur kurz herein, wie der Grünen-Politiker Özcan Mutlu, der mal eben erzählt, dass die Politik viel mehr für solche Projekte tun müsse – und dann wieder geht.

Oder der deutsch-türkische Hertha-Spieler Tolga Cigerci, der gelegentlich zu Gangway-Treffen kommt, wenn Taner ihn darum bittet. Manche bleiben aber auch den ganzen Abend lang, essen und sehen sich den Film an. Wie Mehmet Matur. Er ist Integrationsbeauftragter im Berliner Fußball-Verband und hat den Jugendlichen Trikots aus seinem Sportgeschäft geschenkt.

Bedauerlicherweise ist es niemand von den öffentlichen Figuren, der an diesem Abend etwas Großes sagt. Das tut der Vater der jungen Sängerin Djana Barjamovic. Ein kleiner Mann mit Hut, der nach der Filmvorführung für einen kurzen Moment seine kleine Tochter aus dem Arm gibt und sich das Mikrofon nimmt: „Vielen Dank für die tolle Arbeit von Gangway“, sagt er auf Bosnisch, „so etwas ist nur in einer Demokratie und einem Land wie Deutschland möglich.“