Finnland setzt auf Retrostrom

ENERGIEVERSORGUNG Das Parlament in Helsinki stimmt mehrheitlich für einen Reaktorneubau an der Ostseeküste. Lieferant und Betreiber wird das russische Staatsunternehmen Rosatom – mit kräftiger finanzieller Unterstützung des finnischen Staates

„Wir sind das letzte westliche Land, das an Atomkraft glaubt“

VILLE NIINISTÖ, GRÜNE

VON REINHARD WOLFF

STOCKHOLM taz | Während man in anderen europäischen Ländern darüber nachdenkt, wie man die Abhängigkeit von russischer Energie mindern könnte, geht Finnland den entgegengesetzten Weg. Das Parlament segnete in Helsinki am Freitag mit 115 zu 74 Stimmen die bereits von der Regierung genehmigten Pläne zum Bau eines neuen Atomreaktors ab. Den soll eine Tochter der russischen Rosatom bauen. Der staatliche Atomkonzern soll auch Betreiber und gleichzeitig größter einzelner Anteilseigner des sechsten finnischen AKW – vier sind im Betrieb, einer im Bau – werden. Errichtet werden soll ein Druckwasserreaktor mit einer Leistung von 1.200 Megawatt nahe dem nordwestfinnischen Pyhäjoki an der Ostseeküste.

Regierung und Parlament sind mit ihrem Beschluss nicht in Einklang mit der Mehrheit der finnischen Bevölkerung. Laut Umfragen lehnen fast zwei Drittel den Russland-Deal ab. „Wir sind das letzte westliche Land, das noch an Atomkraft glaubt“, kritisierte der Grünen-Vorsitzende Ville Niinistö. Das Argument der Atomlobby für einen neuen Reaktor sei ursprünglich gewesen, Finnlands Energieversorgung weniger abhängig von Russland zu machen. Nun werde diese Abhängigkeit sogar noch größer. „Will man eigentlich nicht sehen, dass Energiepolitik ein wichtiger geopolitischer Hebel für Putin ist“, fragte der Ex-Umweltminister in der Parlamentsdebatte. Und er kritisierte das seltsame Signal, das Finnland mit diesem Ausbau der Zusammenarbeit angesichts der ansonsten bestehenden Sanktionen gegen Moskau aussende. Russland werde durch den Betrieb des finnischen AKW Plutonium gewinnen, das dann in nuklearen Waffen verwendet werden könne, kritisiert die ehemalige Entwicklungshilfeministerin und jetzige Grünen-Europaabgeordnete Heidi Hautala.

Den jetzt genehmigten Neubau hatte die finnische Stromwirtschaft ursprünglich mit dem Energieversorger Eon geplant. Der hatte 2012 seine Beteiligung aufgekündigt, weil er das Projekt für nicht mehr profitabel hielt. Bei Rosatom spielen wirtschaftliche Überlegungen offenbar keine ausschlaggebende Rolle. Beim Preis scheint man zu großen Zugeständnissen bereit gewesen zu sein – vermutlich sowohl aus politischen Gründen, als auch um einen Reaktor in Finnland künftig als Referenzobjekt vorweisen zu können. So hat Rosatom den Anteilseignern am AKW Pyhäjoki – die gleichzeitig die Stromabnehmer sind – für die zwölf ersten Betriebsjahre einen Stromproduktionspreis von höchstens 50 Euro pro Megawattstunde garantiert. Zum Vergleich: Die britische Regierung lockte den Energiekonzern EdF mit dem Versprechen eines Garantiepreises von 106 Euro pro Megawattstunde für die Investition in den AKW-Neubau Hinkley Point.

Auch ein Produktionspreis von 50 Euro könnte sich bei Fortschreibung des Preisniveaus, das an der nordischen Strombörse in den vergangenen Jahren im Schnitt um 10 bis 15 Euro niedriger lag, aber womöglich alles andere als attraktiv erweisen. Das ist auch der Grund, weshalb seit dem Eon-Ausstieg auch andere ursprüngliche Anteilseigner ausgeschieden waren. Mit der Folge, dass das Pyhäjoki-Projekt noch bis vor wenigen Tagen auf der Kippe stand. Es gab ein Finanzierungsloch von 15 Prozent, das Rosatom zwar gern ausgeglichen hätte, aber nicht durfte: Laut Gesetz müssen 60 Prozent der Anteilseigner an einer AKW-Betreibergesellschaft finnisch sein. Die Rettung kam vom finnischen Staat. Die Energiegesellschaft Fortum wurde von ihrem größten Eigentümer, dem Staat, veranlasst, sich exakt in Höhe der fehlenden Anteile an Pyhäjoki zu beteiligen.

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