Die letzte WG vor dem Tod

Seit März gibt es in Berlin einen geriatrisch-palliativen Wohnbereich in einem Sanatorium für Pflegebedürftige. Dort leben 18 Menschen, bei denen keine Therapien mehr angewendet werden. Denn gesunden werden sie nicht mehr. Stattdessen gibt es menschliche Wärme und viel Leben

VON WALTRAUD SCHWAB

Irmgard Wilke ist glücklich. „Glücklich“, wiederholt sie fragend, als müsste sie der Bedeutung des Wortes nachspüren. Dann nickt sie und sagt: „Ja, ja, glücklich.“ Der kraftvolle Ton will nicht zur schmächtigen Frau passen. „Man stirbt nicht gleich übermorgen“, fügt sie hinzu. Es klingt spöttisch. Als Berlinerin, 82-jährige, hat Wilke gelernt, das Unvermeidliche mit Humor zu nehmen.

Wilke sitzt in der Gemeinschaftsküche des geriatrisch-palliativen Wohnbereichs des Sanatoriums West in Lichterfelde. Auf dem Tisch stehen die Sommerblumen, die ihre 20 Jahre jüngere Cousine mitgebracht hat. Soeben ist sie gegangen. „Mach es gut. Halt den Kopf steif. Bis nächste Woche.“ Was man so sagt, wenn man sich von jemandem verabschiedet, der an einem Ort angekommen ist, wo er sterben wird. Denn Irmgard Wilke ist, was Mediziner „multimorbid“ nennen. Bei Wilke sind’s die Lungen, die Anlass zu größter Sorge geben. Aber welche Sorge soll das sein? Die, dass eines Tages nichts mehr da ist, was den Sauerstoff aus der Luft zieht und damit das Blut anreichert, und sie deshalb ganz müde sein wird und einschläft für immer?

Die Berlinerin hatte schon solche Tage. Zuletzt ist sie in ihrer Dreizimmerwohnung in Schöneberg umgefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis eine Nachbarin sie fand. „Schluss jetzt“, sagte die herbeigerufene Cousine. Sie ist eine resolute Frau. „Sie meinte, dass ich nicht mehr allein leben kann. So bin ich vor drei Monaten hierher gekommen.“

Hierher also. In den geriatrisch-palliativenWohnbereich des Pflegeheims. „Die Symptome, die Schmerzen der Menschen werden gelindert. Therapien, um die Krankheiten zu heilen, werden nicht mehr gemacht“, sagt Carola Focke. Sie ist die Leiterin des Sanatoriums, das diesen Wohnbereich für 18 Menschen eingerichtet hat, die nach medizinischem Ermessen nicht mehr gesunden können. Anfang März war die Eröffnung.

Zwischen großen Familienhäusern steht das Sanatorium. 180 chronisch Kranke leben hier, manche schon Jahrzehnte. Es sind Wachkomapatienten, Menschen mit multipler Sklerose, pflegebedürftige Alte. Direkt neben dem Haus ist ein wild überwucherter Friedhof mit Backsteinkirche. Otto Lilienthal liegt da. Der Flieger, der Überflieger, der Abgestürzte. „Opfer müssen gebracht werden“, steht auf dem Grabstein.

Zuwendung statt Medizin

Der Palliativwohnbereich im Sanatorium ist ein Modellprojekt. Edith Birlin, unabhängige Pflegesachverständige in Berlin, hat ihn angeregt. Sie findet schon lange, dass Orte fehlen für austherapierte, pflegebedürftige Menschen, die nicht zuhause versorgt werden können. Solche Menschen, deren Tod absehbar ist, ohne dass man sagen kann, wie lange das Leben noch dauert. Eine Station, ähnlich einem Hospiz, wo sich niemand etwas vormachen muss. Die Patienten und Patientinnen nicht, die Pflegepersonen und Ärzte nicht, auch nicht die Angehörigen und Freunde. Das Sanatorium West war bereit für das Experiment. Es finanziert den Mehrbedarf im geriatrisch-palliativen Wohnbereich vor. Nach einem Jahr ziehen die Krankenkassen Bilanz und entscheiden, ob sie die Mehrkosten tragen. Im Palliativbereich wird zu normalen Pflegesätzen betreut. Sie liegen zwischen 2.700 und 3.600 Euro im Monat. „Die Versorgung von austherapierten Menschen in Pflegeeinrichtungen ist oft nicht ausreichend“, sagt Birlin. Sie brauchen weniger Medizin und mehr menschliche Zuwendung.

Birlin weiß von keiner Adresse in Deutschland, wo Menschen mit einer Krankengeschichte, wie Irmgard Wilke sie hat, unterkommen könnten. Einer Adresse, wo losgelassen wird. Einer, wo es Aufgabe des Pflegepersonals ist, so viel Freude ins Leben zu holen, wie sie nur können. Für Wilke heißt das: Romméspielen. Sie hat die Spielunkundigen angelernt. Darunter den aus Indien stammenden Pfleger Kossack Schopon. „Sie siegt unentwegt“, sagt er. „Manchmal lasse ich ihn gewinnen“, sagt Wilke, „damit er den Spaß nicht verliert.“ Die alte Dame ist der Partyhit in dieser letzten WG vor dem Tod.

Willi Schmidt sitzt ebenfalls in der Küche. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Er sei Einzelgänger, sagt er, und „so ’ne Art Rebell“. Trotzdem lässt er sich auch schon mal hinreißen, mit Wilke zu spielen. Der 58-Jährige hat Krebs. Vor zwei Wochen kam er im Wohnbereich an. Es ging ihm schlecht. „Die Krankenhäuser, wo ich vorher war, haben mich krank gemacht.“ Am Ende habe er den Ärzten schriftlich verboten, ihm bestimmte Medikamente zu spritzen, da habe man ihn hierher verlegt, berichtet er. Jetzt sieht er erholter aus mit Dreitagebart, Arbeitshemd, grauem Haarflaum auf dem Kopf. „Hier lässt man mich in Ruhe.“ Das brauche er. Meist sitzt er im Bett und schreibt sein Leben auf. „Ich hab so viele Chaoten kennengelernt in meinem Leben. Liebevolle Chaoten. Da muss ich immer lachen.“

Früher ist Schmidt gern rumgereist, hat hier ein wenig rebelliert und da ein wenig rebelliert, sei Motorrad gefahren, habe Gitarre gespielt. „Der Sound muss stimmen. Verstehen Sie – der Sound.“ Ins Pflegeheim allerdings hat er kein Instrument mitgebracht. Warum nicht? „Weil ich mich mit was anderem beschäftigen muss.“ Womit? „Mit dem Ende.“ Sind Sie bereit dafür? „Ja“, sagt er. „Man hilft mir hier.“

„Bei uns wird niemandem der funktionale Tagesablauf eines Krankenhauses übergestülpt“, bestätigt Katica Todorovic, die Wohnbereichsleiterin. Das sei manchmal nicht einfach. Als Pflegerin fühle man sich gut, wenn man immer noch was machen könne, meint sie. „Wir sind es gewohnt zu powern. Da noch ’ne Magensonde legen, dort ’ne Injektion, hier eine Infusion.“ Auf dem Palliativbereich hingegen muss sie ertragen, dass sie jemandem, der nicht mehr essen will, auch nichts mehr künstlich zuführt. „Das ist schwer, aber Menschen, die sterben, haben keinen Appetit“, sagt die schwarzhaarige Kroatin, die die Liebe in Berlin hält.

Eine Besucherin kommt in die Küche und setzt sich dazu. Kaffee wird ihr hingestellt. Sie kümmert sich um einen Nachbarn, der hier lebt. Für ihn sei sie gerade beim Bestatter gewesen. „Das ist ja ’ne teure Angelegenheit, so ’ne Beerdigung. Das haut dich aus den Socken“, sagt sie.

Irmgard Wilke und Willi Schmidt würden in einem Hospiz kaum einen Platz bekommen, weil die Ärzte ihre Lebenserwartung nicht prognostizieren können. Die Hospizunterbringung zahlen die Krankenkassen, in seltenen Fällen länger als ein halbes Jahr. Ein Arzt muss bestätigen, dass die Lebensperspektive des Menschen darunter liegt. Im Hospiz ist die durchschnittliche Verweildauer 30 Tage. „Wir dachten, dass die durchschnittliche Aufenthaltszeit bei uns im geriatrisch-palliativen Wohnbereich ein halbes Jahr sein wird“, sagt Birlin. Zu ihrer und der Überraschung aller anderen sind in den ersten vier Monaten jedoch schon zwölf Kranke verstorben. Das medizinische Loslassen hat menschliches Loslassen ermöglicht. Allerdings steht am Ende nicht immer der Tod. Eine Patientin hat sich so erholt, dass sie doch wieder verlegt wurde und Therapie bekommt.

Auch die 64-jährige Ute Lenz, die im Rollstuhl mit am Küchentisch sitzt, bekäme in einem Hospiz keinen Platz. Sie hat eine Muskelerkrankung. Die Ärzte waren am Ende. Woran sie leidet, hat keinen Namen. „In Embryostellung und nur noch schreiend hat man sie zu uns gebracht“, erzählt Todorovic. Anfang März kam sie auf die Station. Mittlerweile sitzt sie im Rollstuhl und spricht wieder, wenn auch gebrochen. Mit der Krankengymnastin geht sie sogar ein paar Schritte. Zitternd und zaghaft, der Fuß braucht lange, bis er am Ort ist, an dem er Halt hat, damit das Gewicht darauf verlagert werden kann. So ist es auch mit den Worten. Sie richten sich in ihrer eigenen Bedeutung ein. „Ich habe keine Kinder“, sagt sie. „Nur meine Tochter hat welche.“

Das Leben am Küchentisch

Neben Krebspatienten und Menschen mit Muskelerkrankungen und Nervenleiden sind auch Alzheimerpatientinnen im letzten Stadium ihrer Krankheit hier. Irmgard Wilke teilt ein Zimmer mit einer Frau, die vorher jahrelang im Pflegeheim betreut wurde und die nicht mehr spricht. Wohl aber spürt sie der Wärme nach, wenn jemand sie am Arm oder am Kopf streichelt. Sie neigt ihren Kopf der Berührung zu. Auch hätte sie aufgehört zu schreien, berichten die Pflegerinnen, wenn man sie wäscht. Einer anderen Demenzpatientin, die seit Jahren nicht mehr gesprochen habe, fallen plötzlich wieder Wörter ein. „Sonne“, sagt sie. „Sonne.“ Und „Danke“.

Der Palliativwohnbereich wirkt nicht wie eine Luxusvilla. Nur der Tisch, an dem sich alles Leben konzentriert, durchbricht die Krankenhausatmosphäre. Von den weiten, beige in beige gestreiften Fluren gehen die Zimmer ab. Wenn Todorovic Dienst hat, macht sie die Türen auf, damit es mehr wie eine Wohnung wirkt. Plötzlich trifft die Eleganz des Raumes der Stille, in dem Sessel und Tische stehen für Trauernde, die sich zurückziehen wollen, auf die Funktionalität eines Pflegeheims. Die Türen zu den Zimmern öffnet Todorovic auch, wenn die Kranken es wollen. Und die zum Bad. Es ist ausgemalt, als wäre es ein Gemach in einem indischen Prunkbau. Wer zum imaginären Badfenster hinausschaut, sieht den Taj Mahal vor sich. Die Badewanne wirkt wie eine Wiege. „Alle Patienten fangen an, von früher zu erzählen, wenn sie gebadet werden“, sagt Todorovic. Das Bad ist eine Märchenwelt, und der Wohnbereich ist für viele, die vorher jahrelang allein gelebt haben, wie eine Familienidylle. Die Kranken werden umsorgt, Verantwortung tragen andere. Vielleicht stehen deshalb auf Wilkes Nachttisch auch nur zwei Kuscheltiere und zwei Fotos aus ihrer Kindheit. Auf einem sind ihre Eltern und ihr Bruder. Auf dem anderen ist eine Berliner Göre, die neugierig in die Kamera schaut. Ein Krimi von Donna Leon liegt auf ihrem Bett. „Ach der Brunetti“, sagt Wilke.

Die meisten Kranken brächten kaum persönliche Gegenstände aus ihrem alten Leben mit in die WG, erzählt Todorovic. Als wäre alles, was davor lag, Vergangenheit. In der Gegenwart sitzen Schmidt und Wilke und die anderen am Küchentisch und nehmen jedes Stückchen Leben, das hereinschneit, gierig auf. Ist jedoch gerade nichts los, fragt Wilke ihren Pfleger Schopon, den sie „Indianer“ nennt: „Na wie wäre es mit einer Partie?“ Schelmisch lächelt die ehemalige Buchhalterin, deren Haut sich so um die Schulterknochen gezogen hat, dass hinter den Schlüsselbeinen rechts und links von ihrem Hals je eine Kuhle entstanden ist. Eine Kuhle, so tief, dass man Wasser hineinfüllen und daraus trinken könnte.