Bis heute auf russisches Uran angewiesen

STÖRFALL II Sowjetisches Erbe: Die Atomwirtschaft der Ukraine ist vom Nachbarn abhängig

1993 soll stark kontaminiertes Wasser ausgetreten und in den Dnjepr geflossen sein

BERLIN taz | Der AKW-Komplex Saporischschja liegt bei der Kleinstadt Enerhodar (50.000 Einwohner) in etwa 50 Kilometer Entfernung von Saporischschja, der sechstgrößten Stadt der Ukraine. Für viele Ukrainer handelt es sich um einen symbolischen Ort. Auf einer Insel im Dnjepr befand sich dort die „Sitsch“ von Saporoschje, eine Kosakengesellschaft, die als eine der Quellen ukrainischen Unabhängigkeitsstrebens und ukrainischer Tapferkeit gefeiert wird.

Der Ausbau der Atomkraft war zunächst eine sowjetische Entscheidung. Er hat den GAU von Tschornobyl (früher Tschernobyl) 1986 und die Unabhängigkeit der Ukraine seit 1991 überdauert. Atomkraftwerke sorgen für etwa 47 Prozent der ukrainischen Energie, etwa 45 Prozent stammen aus Wärmekraftwerken – die vor allem durch Gas und Erdöl betrieben werden –, der Rest vor allem aus Wasserkraft. 2006 beschloss die Regierung in Kiew, bis zum Jahr 2030 11 neue Atomanlagen zu bauen. Insgesamt verfügt die Ukraine über 15 Reaktoren in vier Komplexen – Chmelnyzkyj, Riwne, Juschnoukrainsk und Saporischschja.

Saporischschja ist das größte AKW Europas. Es verfügt über sechs Reaktorblöcke mit einer Leistung von 956 Megawatt. Sie entsprechen nicht der Bauweise der Reaktoren von Tschornobyl.

Gebaut wurde der erste Block des AKW ab 1980; 1984 wurde er in Betrieb genommen. Die anderen entstanden schrittweise in den achtziger Jahren. Der letzte Block wurde 1995 in Betrieb gesetzt, also nach der Unabhängigkeit der Ukraine.

Bisher sind wenig Störfälle bekannt geworden. 1993 soll stark kontaminiertes Wasser ausgetreten und in den Dnjepr geflossen sein, aus dem das für den Betrieb notwendige Wasser entnommen wird. Das Erbe der Sowjetunion ist bis heute im Land nicht nur in Gestalt eines großen Fortschrittsglaubens präsent. Die Ukraine war auch die wichtigste Waffenschmiede der Sowjetunion, große Teile der Atomanlagen sind aus dem heutigen Nachbarstaat Russland. Auf Druck der USA erklärte sich die ukrainische Regierung 1994 bereit, das auf ihrem Territorium lagernde Material an Russland zu übergeben. Das ist inzwischen geschehen.

Bei ihren AKWs jedoch ist die Ukraine bis heute auf russisches Uran angewiesen. Nicht nur diese und die technische Abhängigkeit sind ein Problem, sondern auch die für Betrieb und Wartung notwendigen Investitionen, die sich die bitterarme Ukraine kaum leisten kann. In die Planung bis 2030 wurde allerdings neben den russischen Firmen auch der US-Konzern Westinghouse einbezogen. Angesichts des laufenden Konflikts ist damit zu rechnen, dass westliche Atomtechnik an Gewicht gewinnen wird. ERHARD STÖLTING