Der Eismann

FORTSCHRITT Am Ende seines Lebens wäre Marcus Beyer ungern für immer tot. Deshalb will er sich einfrieren lassen. Bis die Medizin das Problem gelöst hat

■ Die Hoffnung: Kryoniker wollen sich nach ihrem Tod bei Temperaturen von minus 196 Grad Celsius konservieren lassen. Sie hoffen, dass zukünftige Menschen sie Jahre oder gar Jahrhunderte später wiederbeleben, wenn die medizinischen Mittel dazu entwickelt wurden. Hoffen lässt die Kryoniker das Bärtierchen: ein milbenartiges Lebewesen, kleiner als ein Millimeter. Es wurde erfolgreich eingefroren und wieder aufgetaut, wie Forscher 2009 berichteten. Auch die Niere eines Kaninchens haben Kryowissenschaftler 2009 eingefroren, aufgetaut und in ein Kaninchen eingesetzt. Es hoppelte noch einige Wochen damit herum.

■ Die Probleme: Selbst einzelne Zellen und Embryonen verkraften sehr oft das Einfrieren nicht. Die Kälte zerstört häufig ihre Zellwände und tötet sie so irreparabel. Ein menschlicher Organismus besteht aus über zehn Billionen Zellen. Je nach Art reagieren sie verschieden auf Temperaturänderungen. Die Zellschädigung durch Einfrieren ist beim Menschen also so gut wie nicht zu verhindern. Es gibt auch bisher keine Möglichkeit, Menschen die einige Stunden keine Gehirnaktivität aufzeigten – also tot sind –, wiederzubeleben. Die Nerven bekommen zu lange keinen Sauerstoff, die Schäden sind unumkehrbar. Tot ist eben tot.

AUS FREIBURG MARIA ROSSBAUER
UND STEFAN PANGRITZ (FOTO)

Der Informatiker Marcus Beyer, Vater von zwei Töchtern, Fan scharfer Currywürste und erholsamer Radtouren, liebt das Leben so sehr, dass er es gern in zweihundert Jahren wiederholen möchte. Zu diesem Zweck will er sich einfrieren lassen: minus 196 Grad, flüssiger Stickstoff, Kopf nach unten. „Der Tod ist etwas, was ich gerne vermeiden möchte“, sagt er.

Das mag vielen Menschen so gehen, aber Marcus Beyer tut etwas dafür. Er ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für angewandte Biostase. Ein Verein, der Kryonik fördern will. Kryos kommt aus dem Griechischen und heißt Frost: Die Kryoniker wollen sich so lange einfrieren lassen, bis die Menschen es geschafft haben, den Tod mit technischen und medizinischen Mitteln zu besiegen.

Beyer ist 38 Jahre alt. Er trägt weite blaue Jeans, hellblaue Turnschuhe und ein hellblaues Hemd. Er wohnt in Gundelfingen und arbeitet für eine Immobilienfirma im nahen Freiburg. An diesem Vormittag ist er auf den Alten Friedhof in Freiburg gekommen, um uns von seinen Plänen zu erzählen. Das schien ein geeigneter Ort. Auf dem Alten Friedhof werden schon lange keine Menschen mehr begraben. Würmer durchbohrten die Toten, Bakterien verdauten ihr Gewebe. Heute verraten nur noch die uralten Grabsteine, wer hier einmal gelegen hat. Jeder Stein ist ein Kunstwerk. Hohe Gräser und Wiesenblumen wuchern, Spaziergänger wandern die sandigen Wege entlang, Väter schieben Kinderwägen an Kastanien- und Nadelbäumen vorbei. An fast jedem Baum hängt ein Vogelhäuschen. Das Leben hat sich den Ort zurückerobert. „Total schön“, sagt Marcus Beyer.

Im Großen und Ganzen soll es einmal so ablaufen: Wenn Beyers Körper beginnt, nicht mehr zu funktionieren, kommt eine Kryonik-Einsatztruppe zu ihm. Die freiwilligen Helfer der Gesellschaft geben ihm blutverdünnende Medikamente. Damit sich später, wenn sein Blut gegen Frostschutzmittel ausgetauscht wird, keine Klumpen bilden. Sobald ein Arzt dann Beyers Tod feststellt, kühlen die Helfer als Erstes seinen Kopf. Vielleicht mit einer Eiswanne. „Es ist wesentlich, dass die Gehirnstrukturen gut erhalten bleiben“, sagt Beyer. Dann könnte er gleich vitrifiziert werden, das Blut in seinen Adern würde also gegen dieses zähflüssige Frostschutzmittel mit allerhand Zusatzstoffen ausgetauscht. Bei minus 130 Grad wird es fest wie Glas. Dann könnte Beyer direkt in eine Truhe gesteckt werden, gefüllt mit flüssigem Stickstoff, und bei minus 196 Grad Celsius ein paar hundert Jahre warten.

Gräber, Mythen, Biostase

Hin und wieder bleibt er vor einem Grabstein stehen, bestaunt verschnörkelte Inschriften oder erzählt von Mythen über einzelne Gräber.

An den Vorstandsposten der Biostase-Gesellschaft ist er eher zufällig gekommen: Er las ein Interview mit einem Kryoniker aus Deutschland. „Ich fand das gleich interessant, war aber erst mal skeptisch“, sagt er. Dennoch: Die Idee faszinierte ihn. Im Jahr 2005 fand er im Internet Klaus Sames, den Gründer von Biostase e. V. Der Mediziner hatte damals mit seiner Gesellschaft nicht mal eine vernünftige Website, sagt Beyer. Er kümmerte sich darum. Drei Jahre später war er Vorstand.

Seine Aufgabe besteht vor allem darin, Anfragen an Spezialisten weiterzuleiten. Eigentlich fühlt er sich nicht geschaffen für die Leitung. Das solle lieber ein Biologe oder Mediziner machen. So viele mögliche Vorstände gibt es aber nicht: Biostase e. V. zählt nur 38 Mitglieder. Darunter seit Kurzem auch Beyers Frau.

Beyer steckt die Hände in die Hosentasche, nimmt sie wieder heraus. Er weiß, dass viele ihn als Spinner sehen. Die meisten Naturwissenschaftler und Mediziner halten Kryonik für unrealistisch. Körperzellen nähmen durch Einfrieren irreparablen Schaden. Doch Kryoniker hoffen, mit dem aufwendigen Austauschen des Blutes durch Frostschutzmittel die schädigende Eiskristallbildung zu vermeiden. Zudem könnten in der Zukunft Nanoroboter durch die Blutbahn der Wiedererweckten flutschen und kaputte Zellen flicken. „Manchmal finde ich es selbst skurril, dass ich mich mit dem Thema beschäftige.“ Er sagt das leise, fast unverständlich.

Doch er wolle nun eben die Kryonik voranbringen, sagt er, gegen Vorurteile kämpfen. So könnten sich langsam die Techniken verbessern – und vielleicht die Gesetze ändern. Das Einfrieren von Leichen ist in Deutschland nämlich verboten. So bleiben den Frostsuchenden genau drei Möglichkeiten: zwei Kryonik-Institute in den USA und eines in Russland. Dort jedoch müssen die Leichen aus Deutschland erst hinkommen. Und zwar möglichst kalt: Je kühler der Körper direkt nach dem Sterben gehalten wird, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Wiedergeburt klappt.

Im Cryonics Institute im US-Bundesstaat Michigan kühlt seit Ende Juli ein neuer Körper: Robert Ettinger, der Vater aller Kryoniker, lagert nun in einer der Truhen, den Kryostaten. Gefüllt mit flüssigem Stickstoff reichen die Boxen bis an die Decke der Lagerhalle. Vor 35 Jahren hat Ettinger das Institut gegründet, 106 vorübergehend Tote – auch Patienten genannt – hängen dort kopfüber. So würden als Erstes die Füße anfangen zu faulen, und als Letztes der Kopf. Falls etwas schiefgeht.

Insgesamt befinden sich etwa zweihundert Menschen auf der Welt in Kryostase. Darunter auch Ettingers zwei Ehefrauen und seine Mutter. Um schneller in einer der Truhen zu landen, könnte Beyer sich auch vorstellen, beizeiten in die USA auszuwandern.

Aber müsste er sich nicht, um eine wirkliche Chance aufs Wiedererwecken zu haben, lebend einfrieren lassen? So jedenfalls klappt es mit kleineren Organismen, wie einzelnen Zellen oder Embryonen, in Forschungslabors tatsächlich. Nun ja, Beyer räuspert sich, besser wäre es wohl. „Menschen hatten aber auch schon mehrere Stunden keine Gehirnaktivität – der Mediziner sagt Gehirntod. Die wurden danach auch wiederbelebt.“ Die Grenze, wann jemand tatsächlich tot ist, sei variabel. Wenn er eine unheilbare Krankheit hätte, würde er sich aber auch lebend einfrieren lassen.

„Ob das Ganze klappt, ist schwer zu sagen“, sagt Beyer. „Aber es ist eine Chance.“ Eine Chance, das Leben ein bisschen länger zu leben, einmal in die Zukunft zu blicken. „Im Wesentlichen ist es eine Reise in ein exotisches Land“, sagt Beyer. „Ich stell’ mir das faszinierend vor.“ Er glaubt an den Fortschritt.

Die Sonne scheint durch die Kastanienbäume des Freiburger Friedhofs, wirft fleckige Schatten auf die Wege. Beyer hält in der rechten Hand einen schwarzen Regenschirm. Er war sich nicht sicher, ob das Wetter hält. Er wollte auf keinen Fall nass werden.

Marcus Beyer ist dafür, dass man die Technik nutzt. Alte, neue, künftige. Er schwärmt davon, wie schnell sich Computer und Handys entwickelt haben. Er sagt, dass er mit „Star Trek“ aufgewachsen ist, der Fernsehserie, in der Raumschifftechniken und Heilmittel, die in unserer Zeit absurd wirken, ganz selbstverständlich funktionieren.

Auch wenn er einmal aufgetaut wiederauftauchen möchte, unsterblich wäre er nicht so gerne, sagt Beyer. „Die Sonne wird irgendwann nicht mehr glühen, jederzeit könnte ein Meteor einschlagen.“ Er möchte nicht ewig leben. Nur noch ein bisschen.

Dass künftig Zellen und Gewebe repariert werden können, und so ein Mittel gegen den Tod gefunden wird, da ist Beyer sicher. Für ihn ist das Einfrieren und Wiederauftauen von Menschen vor allem eine medizinische Maßnahme. Es sei ähnlich, wie einen Experten in einem entfernten Land aufzusuchen. Nur dass Kryonik eine Reise durch die Zeit und nicht durch den Raum ist. Gut, der Experte muss in der Zwischenzeit noch geboren werden, und die Behandlungsmethode auch. Wenn Kryonik aber Standard in Deutschland sei, könnte man Menschen Zeit verschaffen: Falls die zeitgenössische Medizin nicht helfen kann wie bei Alzheimer, könnte man Patienten einfrieren und warten, bis es jemand kann, sagt er. Wenn es sein muss Jahrhunderte.

An einem Wegrand des Alten Friedhofs auf einer Grabstätte liegt eine Frau, in Stein gehauen. Ein siebzehn Jahre altes Mädchen soll dort begraben worden sein, vor fast 150 Jahren. Seither sind da jeden Tag frische Blumen. Woher sie stammen, weiß keiner. Viele Legenden ranken sich in Freiburg um dieses Grab.

Marcus Beyer betrachtet das Grab. Auch er könnte irgendwann einmal so einer sein. Er wäre nur nicht aus Stein, sondern aus Eis. Vielleicht käme ein Nachfahre vorbei und würde sein Eisgefäß begutachten. Ein Behälter, der ein wenig an Milchtanks in einer Molkerei erinnert.

„Ich find einfach das Leben so toll“, sagt Beyer. Er ist Agnostiker – was nach dem Tod ist, kann keiner wissen, glaubt er. Doch Sterben bedeutet für ihn eher das Ende. Mit verschiedenen Religionen hat er sich befasst, aber zu einem Schluss kam er nicht.

Auftauen im Kriegsgebiet?

Ein Informatiker arbeitet mit Nullen und Einsen. Was nach dem Tod ist, lässt sich schwer in Nullen und Einsen fassen.

Was aber, wenn es doch ein Paradies gibt? Wenn Beyer in einem Himmel landet, wunderschön und sorgenfrei – und plötzlich holen ihn unsere Nachfahren wieder zurück auf eine verseuchte, radioaktiv verstrahlte Erde? In ein Wasserkriegsgebiet des 23. Jahrhunderts? „Hmm.“ Beyer überlegt. „Ich glaub, darauf lass ich’s ankommen.“

Es ist ruhig in dem Friedhofspark, kaum ein Auto hört man aus der Ferne. Marcus Beyer wirkt nicht wild entschlossen. Eher wie ein vorsichtiger Zweifler, der sich ein Leben nach dem Tod mit technischen Mitteln schaffen will. Das soll aber hier auf der Erde stattfinden. Auf einer Erde, die schon ziemlich voll ist. Warten die Menschen in zweihundert Jahren auf ein paar alte Männer aus der Vergangenheit?

„Ich glaube, dass man schon Interesse an Zeitzeugen hat. Ob die dann Retrokunst machen oder speziellen Geschichtsunterricht, weiß ich nicht“, sagt Beyer. Und sollte es in zweihundert Jahren zu wenig Platz und Ressourcen geben, würden die seine Truhe sicher noch ein paar hundert weitere Jahre zu lassen. Bis es Platz für ihn gibt. Vielleicht dann auch schon auf dem Mars.

„Wenn ich nicht existiere, ist das außerdem eine schlechte Grundlage, um Gutes zu tun“, sagt er. Er fährt meist Rad, kauft im Bioladen ein. Tier- und Umweltschutz sind ihm wichtig, sagt er, er ernährt sich gesund. Er verbringt viel Zeit mit den zwei Töchtern, zwei und sieben Jahre alt. Bis vor Kurzem lebte die Familie autofrei. Er sieht sich eher als Teil der Lösung, statt als Teil des Problems. Vielleicht etwas zu sehr, sodass er sich die Welt nicht recht ohne sich vorstellen kann. Aber Marcus Beyer ist auch ein zurückhaltender Typ. Zumindest würde er in der Zukunft nicht viel kaputt machen.

Und die Umweltkosten, die Kühlung? Kryostaten würden keinen Strom, sondern nur Stickstoff benötigen. Den müsse man zwar alle paar Wochen nachfüllen. Er sei aber sehr billig. Wäre es aber nicht viel einfacher, die Zeit, die einem bleibt, so gut wie nur irgend möglich auszukosten – und dann den Platz zu räumen für die Nächsten? Würde ein Urlaub genauso viel Spaß machen, wenn man ihn unendlich oft wiederholen könnte? Vielleicht ist das Leben genau deswegen so schön, weil es nicht ewig ist. Weil es endet. Weil es einmalig ist.

Nun ja, sagt Beyer, vor allem sei es wichtig, mit sich im Einklang zu sein, im Leben, und auch was seine Pläne für später betrifft. Er schweigt, sein Blick bleibt am Ende des sandigen Weges hängen. Ein paar Vögel zwitschern über den Baumkronen.

Am Ende könnte es aber doch so sein, dass Beyer auf dem Friedhof landet und nicht im flüssigen Stickstoff. Er hat nämlich noch gar keinen Vertrag mit einem Kryonik-Institut abgeschlossen. Er habe das Ganze ein wenig auf die lange Bank geschoben, sagt er. Auch aus finanziellen Gründen. Etwa 100.000 Euro würden gekühlter Transport, Behandlung des Körpers und Lagerung kosten. Risikolebensversicherer bieten über Jahre monatliche Ratenzahlung an – allein am Geld kann es da nicht liegen.

Na ja, sagt Beyer. Es gebe da ja auch zwei potenzielle Anbieter, da müsse man sich erst entscheiden. Dann die technischen Fragen: Will er nur den Kopf einfrieren lassen, das käme günstiger, oder doch den ganzen Körper?

Wirklich Zeit – Beyer räuspert sich wieder –, sich damit genauer zu befassen, habe er kaum. Realistisch betrachtet ist es also so: Wenn der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Biostase morgen stirbt, müsste er wohl auch unter die Erde. Nicht gefroren. Nur kühl.