Aller guten Dinge sind neunzehn

HISTORISCHER JUBEL Der allererste Fußballsieg gegen Nachbar Deutschland lässt Polen von der EM-Teilnahme 2016 träumen

WARSCHAU taz | Die beiden öffentlich-rechtlichen Sender in Polen, TVP1 und TVP2, plagen dieselben Probleme wie hierzulande ARD und ZDF. Die Rechte an den Bewegtbildern der EM-Qualifikation halten aktuell andere. Dennoch hat das die TV-Macher nicht abgehalten, am Sonntag eine Sondersendung nach der anderen auszustrahlen. Wenn ein historisches Ereignis geschieht, dann reicht es auch, Fotostrecken über den Fernsehschirm zu senden und Fachleute zu befragen. Was Handballer, Volleyballer und Basketballer bewerkstelligten, haben im 19. Anlauf endlich auch die Fußballer vollbracht: Deutschland zu schlagen.

Viele ehemalige Kicker durften da ihren Stolz verkünden, etwa Zbigniev Boniek, der grandiose Spielmacher der achtziger Jahre, der mittlerweile dem Fußballverband als Präsident vorsteht. Oder Jan Tomaszewski, der großartige Torhüter der siebziger Jahre, der eine zweifelhafte politische Karriere hingelegt hat. Egal. Tomaszewski hat seinem endgültig von ihm legitimierten Nachfolger Wojciech Szczesny zugerufen: „Bravo, bravo!“ Und Boniek hatte ins Stadionheft schreiben lassen: „Es ist kein Tag, um dem Weltmeister zu gratulieren; es ist ein Tag für einen fairen Fight“ – nicht ahnend, dass seinen Nachkommen gelingen sollte, was die berühmtesten Fußballer des Landes nie schafften: den Nachbarn nicht bloß wie bei der Wasserschlacht 1974 in Frankfurt an den Rand der Niederlage zu bringen, sondern ihn auch noch von selbigem hinabzustoßen.

„Wir haben das erste Mal gegen Deutschland gewonnen und sind überglücklich. Man hat im Stadion gesehen, wie viel das den Menschen im Land bedeutet“, sagte Lukasz Piszczek hinterher, und der rechte Verteidiger von Borussia Dortmund grinste wie ein Honigkuchenpferd. Zuletzt hatte Polen zweimal die WM-Qualifikation verpasst, für die EM im eigenen Land vor zwei Jahren war man als Mitausrichter automatisch qualifiziert gewesen, aber in der Vorrunde gescheitert. Jetzt bietet sich auf einmal eine prächtige Perspektive für den Sommer 2016.

Am Samstag erlebte das Nationalstadion seinen neuen Stimmungshöhepunkt: An solch infernalischen Lärm bei einem Schlusspfiff konnte sich kaum jemand erinnern. „Heute ist Geschichte geschrieben worden!“, krächzte der polnische Stadionsprecher in sein Mikrofon, während die Zuschauer ihre rot-weißen Schals kreisen ließen. Dass die dritte Halbzeit in den Bars, Pubs und Nachtlokalen der Alt- und Neustadt lange dauerte, versteht sich genauso von selbst wie die Hupkonzerte auf Warschaus Kreuzungen.

Erstaunlich, dass es für die emotionalen Wallungen gar kein Tor von Robert Lewandowski brauchte. Der Stürmer bereitete zwar das 2:0 von Sebastian Mila formvollendet vor und ließ seinen früheren Dortmunder Mannschaftskollegen Erik Durm in dieser Szene schlecht aussehen. Doch beim 1:0 hatte der Kapitän weder Kopf noch Fuß im Spiel. Flanke Piszczek, Kopfball des von Bayer Leverkusen zu Ajax Amsterdam entliehenen Arkadiusz Milik – fertig war das Fundament für die Sensation.

„Es ist ein wunderbarer Tag“, erklärte Milik, der sich über den Freiraum beim 1:0 wunderte – vielleicht ist es ganz gut, wenn sich alles auf Lewandowski fokussiert. Der formulierte ein eher unspektakuläres Fazit: „Wir haben immer an uns geglaubt und haben uns selbst beschenkt. Wir hatten nicht viele Chancen, aber die haben wir genutzt.“

FRANK HELLMANN