Das schlechte Gefühl beim Chef

Der Ex-Leiter des Amtes für Soziale Dienste, Jürgen Hartwig, sagt im Untersuchungsausschuss, er habe selbst zu wenig Luft gehabt, um sich um Mitarbeiter-Sorgen kümmern zu können

VON Eiken Bruhn

Der Saal ist voll. So voll, dass diejenigen, die keinen Stuhl mehr ergattern konnten, sich auf den Boden setzen oder stehen bleiben. Die meisten der Neugierigen arbeiten oder arbeiteten im Amt für Soziale Dienste und sie wollen ihren Ex-Chef sehen, der gestern als Zeuge im Untersuchungsausschuss „Kevin“ vernommen wurde: Jürgen Hartwig. Seit 1983 ist der ehemalige Soldat und promovierte Erziehungswissenschaftler im öffentlichen Dienst Bremens beschäftigt, von 1999 bis 2006 leitete der 55-Jährige das Amt für Soziale Dienste. Nachdem am 10. Oktober vergangenen Jahres ein zweijähriger Junge tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, wurde Hartwig vom Dienst suspendiert. Das Kind Kevin war kein unbekanntes, es stand unter Aufsicht des Jugendamtes. Die wegen des Falls zurückgetretene Senatorin Karin Röpke hatte Hartwig gebeten, sich um den Jungen zu kümmern, nachdem sie Hinweise erhalten hatte, dass das Amt seiner Arbeit nicht nachkam.

Noch bevor er Angaben zu seiner Person macht, schiebt Hartwig eine Erklärung vorweg. Als hätte er Sorge, dass er sie später vergessen könnte. „Kevins Tod hat mich sehr betroffen gemacht“, sagt er. Äußerlich anzumerken ist ihm diese Betroffenheit nicht, von zehn bis 17 Uhr wird er vernommen, in der ganzen Zeit bleibt seine Stimme gleich bleibend ruhig, frei von jeglicher Emotion.

Hartwig weiß, dass ihm wenige im Raum wohl gesonnen sind, nicht wegen Kevin, sondern wegen seiner von vielen als autoritär empfundenen Amtsführung und der rigiden Umsetzung eines politisch gewollten Sparkurses. Im Untersuchungsausschuss wollen die Abgeordneten herausfinden, inwiefern der finanzielle Druck, den sie mit zu verantworten haben, Umstände begünstigen, unter denen ein Kind zu Tode kommen kann – obwohl es sogar der Senatorin bekannt ist, dass es misshandelt wird.

Ob er im Nachhinein denke, er habe in seiner Amtszeit irgendetwas falsch gemacht, wollen die Abgeordneten mehrfach von ihm wissen. „Diese Frage stellt sich mir nicht“, lautet Hartwigs Antwort. Er schildert die Vielzahl der Umstrukturierungen im Amt, die er nach politischen Vorgaben „umzusetzen hatte“, die Programme, die er „einführen musste“. Ob er nicht mitbekommen habe, dass die Konzepte von seinen Untergebenen nicht umgesetzt wurden, dass es eine tiefe Kluft zwischen ihm und den Mitarbeitern vor Ort gab? Hartwig antwortet auf kaum eine Frage mit „ja“ oder „nein“. Meistens holt er zu umständlichen Erklärungen aus über „Steuerungsmodelle“ und „Produktgruppen-Management“. Nach zwei Stunden gesteht er erstmals etwas „selbstkritisch“ ein: „Die qualitative Betrachtung im Feld durch mich hätte intensiviert werden müssen“, sagt er. Und meint, dass er keine Ahnung hatte, unter welchen Umständen die Leute im Amt arbeiten und seine Vorgaben umsetzen. Allerdings treffe ihn dafür keine Schuld, erklärt er. Er selbst habe so viel zu tun gehabt, dass er dafür einfach „keine Luft“ hatte. Immerhin gibt er zu, dass die Einsparungen zu viel Personal gekostet haben, eine Einsicht, die ihn aber erst in den letzten zwei Jahren ereilte. Er habe sich nie an die Presse gewandt, sondern weiter seinen Job gemacht und das Gespräch mit der Senatorin und dem Staatsrat gesucht. Offenbar ohne einschneidende Ergebnisse.

Auf die Frage, ob er gemerkt hat, dass Leute Angst vor den Gesprächen mit ihm hatten, bei denen sie ihre Arbeit legitimieren mussten, sagt er: „Man hat doch immer so ein schlechtes Gefühl, wenn man zum Chef muss, das ging mir auch so, wenn ich zum Staatsrat musste.“