Wenn der Hochhuth zweimal klingelt

Am Samstag hatte „Spuren der Verirrten“ seine Premiere im Berliner Ensemble, das neue Theaterstück von Peter Handke, inszeniert von Claus Peymann. Um es kurz zu machen: Es war entsetzlich. Aber doch ein großer Theaterabend

Ganz am Ende kam doch noch mal Leben ins alte Berliner Ensemble. Das Publikum hatte sich in Honorierung der Schauspieler langsam warmgeklatscht, als der Applauskünstler Claus Peymann die Gunst des Augenblicks nutzte, wenigstens noch mit der Präsentation des Autors für einen gewissen Schauwert zu sorgen. Denn Handke zeigte sich in weißem Hemd, Jeans und Wanderstiefeln. Schlank und sonnengebräunt, erholt und bemerkenswert gut gelaunt. Gleich mehrfach ließ er sich von Peymann umarmen, als wären sie die besten Buddies, und freute sich über das immer noch applaudierende Publikum, das sich fast schon auf Berlinale-Promi-Basis über Handke zu freuen schien. Bei ein paar vereinzelten Buh-Rufen winkte er gelassen ab.

Neben dem Umstand, dass man auf dem Weg zum Berliner Ensemble fast von Rolf Hochhuth mit einem klapprigen Herrenrad auf dem Bürgersteig über den Haufen gefahren worden wäre (zum Glück klingelte er noch), bildete dieses verstörend harmonische Schlusstableau den einzigen interpretatorischen Mehrwert eines quälenden Theaterabends. Und einer misslungenen Uraufführung, der das Publikum in weiten Teilen nur mit fassungsloser Lethargie bis offenem Desinteresse folgen konnte.

„Spuren der Verirrten“ heißt Peter Handkes neues Stück, das im Wesentlichen davon handelt, dass er offenbar mal wieder sein Notizbuch ausmisten musste. Das Ganze eingebunden in den Regieanweisungsmonolog aus der Ich-Perspektive eines „Zuschauers“, der verirrte und versprengte Schauspieler in verschiedenen Konstellationen und Zuständen über einen imaginären Kreuzweg auf der Bühne laufen sieht. Diese dürfen dann ab und zu ein paar Beobachtungen, Gedanken und Dialoge deklamieren, die man allesamt schon ein paar mal zu oft – und vor allem: besser – bei Handke gelesen hat: über neue Lebenslust im Angesicht des Todes, Sprach- und Gestenkritisches in menschlichen Beziehungen, die Heraufbeschwörung einer neuen Zeit und so weiter und so fort.

Das ganze Nicht-Drama soll dabei irgendwie hoffnungsvoll zusammengehalten werden von: Erstens „einer Waldlichtung bei Chaville, nahe dem Wohnort von Peter Handke“ (wie sie im Programmheft gleich mehrfach abgebildet und untertitelt ist). Sowie zweitens einem Schulkind, das sich vom Freund beim Tragen seiner schweren Tasche durchaus nicht helfen lassen wollte, woraus der die Szene beobachtende Handke seinerzeit folgerte, dass zwischen den beiden zuvor irgendetwas Schlimmes passiert sein müsste. Der Aura dieses schlimmen Zuvors (oder, würde Handke jetzt fragen: Danachs?) will das Stück dann atmosphärisch auf die Spur (oder: eben gerade nicht?) kommen. Verwerfungen und Kriege könnten jederzeit passieren oder sind es schon längst.

Diese ebenso allgemeine wie programmatische Einfallslosigkeit goes Apocalypse wird noch getoppt durch Claus Peymanns Inszenierung. Der schickt sein 21-köpfiges Ensemble zusehends lädierter und bandagierter über die schräg fast ins Publikum fallende Bühne und lässt es ansonsten in bester Workshop-Manier und pantomimischer Clowneske gegen einen ohnehin schon schwachen Text anspielen. Komisch war gestern, willkommen im Stadel, hier wird Fantasie noch mit F und Pathos groß geschrieben. Peymann muss aufpassen, dass er mit seiner Meisterliga-Kunst nicht im Stadttheater endet (wie er es dem wackeren Radfahrer Hochhuth eben noch selbst höhnisch und zu Recht in der Welt attestierte). Sein Inszenierungsstil machte eine faire Schauspieler-Kritik im Grunde unmöglich.

Am Ende feiern alle ihre Verirrung als den immer noch „anderen“ Zustand (Handkes neues Lieblingswort, siehe auch taz vom 5. 2. 07). Und der Autor lässt „den Zuschauer“ im Stück sich über das Stück beschweren, der schwächste Trick: Seht her, ich bin immerhin nicht so blöd, wie ich schlecht bin.

Oder: „Den Guten spielen zu wollen und auf den Bösen zu warten. Irrtum der Irrtümer: denn Bösewichte gibt es längst keine mehr, höchstens Schlechte, Schlechte und Aber-Schlechte, die ohne Absicht, Gedanken oder Plan Böses tun, vielleicht umso Böseres, doch eben, als bloß Schlechte, nicht entschieden Böse, keine Gegenspieler abgeben – daher mein Scheitern als Held, daher mein Fall, ohne dramatisches Fallen.“

Da wollte dann auch das Publikum nicht mehr mitspielen und applaudierte am Ende lieber vorsichtshalber. Später, an der Garderobe, erzählte Thomas Roth dann noch einer Fernsehkamera, es sei ein schöner Theaterabend gewesen. ANDREAS MERKEL