Fahrendes Volk ohne Grenzen

Menschen im Transit: Das Buch „Fliehkraft“ setzt Touristen und Migranten als Doppelgänger der mobilen Gesellschaft in Verbindung. Eine etwas konstruierte Beziehung und doch ein großzügiger theoretischer Wurf mit neuen Perspektiven

Bei aller Mobilität geht es immer auch um das Recht auf einen Ort

von EDITH KRESTA

Um Migranten und Touristen und das, was sie verbindet, geht es in dem Buch „Fliehkraft“ von Tom Holert und Mark Terkessidis. Ihre These: „Beide Figuren falten sich mehr und mehr ineinander, weil die informellen Prozesse, die den Namen Globalisierung tragen, eine Unterscheidung immer schwieriger machen.“ Um diese Prozesse zu erkunden, sind die Autoren, wie könnte es anders sein, gereist. Nach Spanien und Marokko, nach Italien und Albanien, Jugoslawien, Palästina und Israel. Ihr Reisebericht auf den Spuren von Migranten und Touristen nimmt viele Details auf, die sie wie Puzzleteile in ihr theoretisches Konstrukt der „Gesellschaft in Bewegung“ einarbeiten.

Oberflächlich betrachtet sieht man Touristen als satte Hedonisten, Migranten als hungrige Opfer. Während die einen zu ihrem Vergnügen reisen, flüchten die anderen vor existenzieller Not und Perspektivlosigkeit. Die Autoren sehen das anders: „Wer in Migration nur Entbehrung und Verzicht sehen will, macht die Migranten zu Opfern. Wer in Touristen nur die Hedonisten erkennt, übersieht die Mühsal des Reisens und die Nähe zu migrantischer Lebensweise.“ Es mag zynisch klingen, wenn man die Strapazen einer Wüstendurchquerung von Niger nach Marokko in den Händen von Schlepperbanden mit der Pauschalreise im Rundum-versorgt-Paket der TUI auf die Kanaren vergleicht. Nichtsdestotrotz wollen die Autoren Migranten und Touristen in Verbindung setzen: „als Doppelgänger ihres neoliberalen, zur Mobilität verdammten Selbst.“

Um Migrant und Tourist in Beziehung zu setzten, ohne sich an den „doch sehr unterschiedlichen persönlichen Schicksalen“ zu reiben, schlagen die Autoren vor, „Migrant und Tourist sollen nicht nur auf reale Personen, sondern auch auf soziale Positionen in der Gesellschaft verweisen. Als Konzept-Figuren sozusagen, um die Gesellschaft in Bewegung zu beschreiben.“ Das klingt zunächst fragwürdig, ist doch die soziale Position eines Golfspielers auf den Kanaren im Fünfsternehotel eine völlig andere als die des mittellosen Flüchtlings im Auffanglager. Das würden die Autoren auch nicht bestreiten. Ihnen geht es eher um den Blick auf die verändernde Kraft der Gesellschaft in Bewegung, der Menschen im Transit, ob Touristen oder Migranten.

Was sich dadurch verändert, sind zunächst die Orte. Es entsteht eine neue Ordnung von Zeit und Raum und Grenzen. „Mit Billigfliegern verschieben sich die Relationen von Nähe und Ferne.“ Berlin und Rom sind sich näher als Berlin und Neustrelitz, und die überall gleichen Konsumzonen gehen mit einem Verlust von Geschichte und Eigenwilligkeit einher. „Residenten-Hochburgen halten den Kontakt zur entfernten Heimat statt zum ursprünglichen Umland.“ Deutsche, die sich an der Costa del Sol niedergelassen haben, halten nach Bielefeld und Stuttgart enger Kontakt als nach Valencia; auch bestimmte Viertel in Tanger, die im Sommer von Auswanderern bevölkert werden, haben mit dem Alltag der Stadt weniger zu tun als mit dem von Madrid oder Brüssel. „Diese neuen Verflechtungen scheren sich nicht um die Grenzen der Staaten. […] Der Raum des Nationalstaats wird durchlöchert und die Grenze immerzu neu verlegt.“

Für Holert und Terkessidis ist der Tourist der „perfekte postpolitische Bürger, für den Städte gebaut werden, aus denen jede Spur der Polis getilgt ist.“ Und die Migranten sind das „Rückgrat dieser tourist citys. Ob an der spanischen Costa del Sol, in Dubai oder an der Adria – großenteils ist es die informelle Ökonomie der Migranten, die viele touristische Zentren am Laufen halten. „Wir sind die Leute, die ihr nicht seht. Wir sind die Leute, die eure Taxis fahren, eure Zimmer reinigen und eurer Schwänze lutschen“, zitieren die Autoren aus dem Film „Dirty Little Things“.

Wo grenzenlose Mobilität und Flexibilität gepredigt wird, sollte man sich nicht wundern, wenn auch Migranten auf der Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Aufforderung folgen. Angesichts dieser globalen Fliehkraft, dieser Umwälzung, die Mobilität und Flexibilität auf ihre Fahne geschrieben hat, empfinden die Autoren die Diskussion um Integration und Leitkultur als hoffnungslos rückständig. „Gesellschaft wird letztendlich nur noch als Fantasiekonstruktion inszeniert, die durch globalisierten Raubtierkapitalismus und durch – ebenfalls globalisierte, vernetzte – mobile Migranten bedroht wird, die sich nicht integrieren wollen“, schreiben sie. Doch was bedeutet das für konkrete soziale Bewegungen und politische Ansätze? Holert und Terkessidis ziehen daraus die Schlussfolgerung, Politik und Recht müssten künftig international und lokal statt national verhandelt und durchgesetzt werden. Wie diese Politik dann konkret aussehen sollte, ist allerdings mehr als spekulativ angesichts der bürokratischen Hürden und der Schwerfälligkeit internationaler Institutionen.

Mit dem Verlust des Nationalen fordern die Autoren gleichzeitig eine Stärkung des Lokalen. Ort politischer Entscheidung werde immer mehr das Lokale, die Kommunen. Denn bei aller vielbeschworenen Mobilität und Bewegungsfreiheit geht es immer auch um das Recht auf einen Ort – und sei es auch vorübergehend – und dessen politische und kulturelle Gestaltung. Das Buch von Holert und Terkessidis ist ein großzügiger theoretischer Wurf mit vielen Unbekannten und unerwarteten Zuordnungen. Doch das macht es gerade spannend.

Tom Holert, Mark Terkessidis: „Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen“. KiWi-Paperback, 285 Seiten, 8,95 €