Hilfe in Not

KINDER Immer mehr Berliner Familien müssen von den Jugendämtern betreut werden. Doch viele Sozialarbeiter sind völlig überlastet. Senat und Bezirke weisen sich gegenseitig die Schuld zu – dabei steht nichts weniger auf dem Spiel als der Schutz von Kindern

VON MANUELA HEIM
UND ANTJE LANG-LENDORFF

Die Meldung kommt am frühen Donnerstagabend, als alle schon nach Hause wollen. Drei Kinder aus dem Soldiner Kiez im Wedding leben in einer Wohnung: ohne Essen, ohne Strom. Eine Vertreterin des Gerichts, die die Familie betreut, hat Alarm geschlagen. Zwei Sozialarbeiterinnen vom Jugendamt gehen sofort los. Eine weitere, Barbara Berry, telefoniert währenddessen die Kriseneinrichtungen durch – notfalls müssen die Kinder dort unterkommen.

Die beiden Kolleginnen entscheiden, dass das Wohl der Kinder gefährdet ist. Die Mutter aber will sie nicht gehen lassen. Sie könnten jetzt die Polizei rufen, also die Kleinen mit staatlicher Gewalt von der Mutter trennen. Inobhutnahme heißt das offiziell. Aber das wäre auch für die Kinder eine erschütternde Erfahrung, die man ihnen möglichst ersparen will. Die Sozialarbeiterinnen vom Jugendamt finden schließlich eine familiäre Lösung: Die Großmutter aus Spandau nimmt die Kinder auf. Vorerst. Ob sie da bleiben können?

Es sind kleine Dramen wie dieses, die sich in Berlin tagtäglich abspielen, an ganz verschiedenen Orten. Laut den offiziellen Angaben werden es immer mehr: 2005 kümmerten sich die Jugendämter um 15.200 Berliner Familien. 2012 waren es knapp 20.200. Vor allem ambulante Hilfe wird stärker in Anspruch genommen – dass etwa Sozialarbeiter Familien beraten und sie in ihrem Alltag unterstützen. Auch stationäre Maßnahmen, wenn Kinder in Wohngruppen oder Pflegestellen untergebracht werden, nehmen leicht zu.

Warum ist das so? Sind tatsächlich immer mehr Berliner Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert? Gibt es gar eine zunehmende soziale Verwahrlosung in der Stadt? Oder erfahren die Behörden einfach von mehr Fällen, die früher unter der Decke gehalten wurden?

Diese Entwicklung stellt besonders die Jugendämter vor große Probleme. Denn die Personaldecke hält mit der Zunahme der Fälle nicht Schritt. Die Bezirke berichten von Sparzwängen, häufig kranken und wechselnden Kollegen. Die Arbeit pro Mitarbeiterin nimmt zu.

Dabei steht nichts weniger auf dem Spiel als der Kinder- und Jugendschutz. Kinder und Jugendliche, deren Wohl durch Misshandlung oder Vernachlässigung gefährdet ist, haben per Bundesgesetz einen Anspruch auf Hilfe. Weil sie diesem Schutzauftrag kaum noch gerecht werden können, hissten Jugendamtsmitarbeiter Anfang des Jahres weiße Flaggen und demonstrierten vor der Bildungsverwaltung. „Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, wenn morgen wieder ein Kind aus dem Fenster fliegt“, sagte Florian Schwanhäußer (CDU), Sprecher der Berliner Jugendhilfeausschüsse. Im Februar warnten auch die Jugendamtsleiter, die Wirksamkeit ihrer Behörden sei gefährdet.

Freitag, acht Uhr, im Soldiner Kiez. Barbara Berry schließt die Tür zum Jugendamt auf, einem mit Graffiti besprühten weißen Altbau in der Grüntaler Straße. Bis 20.30 Uhr musste sie gestern wegen der drei Kinder arbeiten, aber später anfangen geht nicht. Sie hat heute Telefondienst: Wenn ein Notfall reinkommt, muss sie sich kümmern.

Die 49-Jährige trägt Brille und Pony, den aschblonden Zopf hat sie hinten hochgesteckt. Seit 1993 ist Berry als Sozialarbeiterin für das Jugendamt im Wedding unterwegs. Eine energische Frau, die Anweisungen erteilen, aber auch zuhören kann. Sie mag ihren Job. Egal, wie arm jemand sei, was er für einen kulturellen Hintergrund habe – „alle Eltern lieben eigentlich ihre Kinder und wollen, dass es ihnen gut geht. Das ist die Stelle an der Seele, wo man immer Zugang finden kann.“

Barbara Berry betreut 80 Fälle, vor zehn Jahren seien es noch 50 bis 60 gewesen, erzählt sie. Manche Anfragen auf ihrem Schreibtisch stammten noch aus dem vergangenen Jahr: Berichte, die sie für das Gericht schreiben muss; eine Vaterschaftsklärung; ein Kind wurde von der Mutter in die Türkei entführt, der Vater will, dass sich die Behörden dort ein Bild machen, wie es dem Kleinen geht. Berry kommt nicht dazu, sich darum zu kümmern.

In einem anderen Fall wurden Geschwister in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht. Sie haben ein Anrecht darauf, untereinander Kontakt halten zu können. Auch das hat Berry noch nicht in die Wege geleitet – schon seit Monaten nicht. Sie zuckt resignierend mit den Schultern: „Ich habe es einfach noch nicht geschafft.“

Was ganz hinten runterfällt, ist die Prävention – das Abwenden des Schlimmsten. Psychisch kranke oder drogenabhängige Eltern seien zum Beispiel nur bedingt in der Lage, den Alltag mit Kindern zu regeln, sagt Berry. Als sie vor über 20 Jahren angefangen habe, sei sie öfters bei ihren Familien vorbeigegangen, habe geklingelt und gefragt, wie es gehe. „Dafür haben wir heute nicht genug Zeit.“ Dabei könnte gerade die vorsorgende Betreuung teure Folgemaßnahmen verhindern.

Dass die Überlastung kein Problem einzelner Bezirke ist, zeigen Zahlen, die vor einigen Monaten in einer Sitzung der Finanz- und Jugendstadträte vorgestellt wurden. Demnach nahmen die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung zwischen 2008 und 2013 in fast allen Bezirken deutlich zu. Dramatisch ist die Entwicklung in Lichtenberg: Das Geld, das dort für Sozialarbeiter, Pflegestellen und andere Hilfen ausgegeben wird, stieg um 50 Prozent auf über 41 Millionen Euro. Die jährlich bearbeiteten Fälle kletterten im gleichen Zeitraum von 1.250 auf über 1.700. All das werde „ohne zusätzliches Personal bewältigt“, klagt die Jugendstadträtin, Sandra Obermeyer (parteilos, für die Linke).

Ihre Kollegen aus anderen Bezirken berichten ebenfalls von einer „äußerst angespannten Personalsituation“ und regelmäßigen Engpässen. In Mitte, dem Bezirk von Barbara Berry, stiegen die Ausgaben der Hilfen zur Erziehung seit 2007 von 32 auf 45 Millionen Euro. Die Dokumentation der Arbeit habe sich verdoppelt, heißt es. Jugendstadtrat Ulrich Davids (SPD) schmiss Ende 2013 hin, weil er angesichts des Spardrucks keine vernünftige Politik mehr machen könne, wie er erklärte.

In Barbara Berrys Büro klingelt das Telefon. Der Kindernotdienst ist dran. Ein Junge, den Berry betreut, hat wieder geklaut. „Aha, diesmal kein Handy, sondern eine Jacke.“ Berry ist zuständig für die Vollwaise. Der 15-Jährige hat schon viele Hilfen bekommen. Aus dem letzten Heim ist er weggelaufen, zurzeit lebt er auf der Straße. „Er lässt sich auf gar nichts ein. Ich habe keine Idee, was man ihm noch anbieten könnte“, sagt Berry. Der Vormund werde jetzt die geschlossene Unterbringung beantragen. Eigentlich müsste sie sich schnell mit ihm treffen. „Aber ich habe in den nächsten Wochen keine freien Termine.“

Berry fischt ein neues Fax aus dem Posteingang. Eine Schule wendet sich an das Jugendamt. Ein Junge sei auffällig, er zeige unter anderem sexualisiertes Verhalten, schreibt die Lehrerin. Das klingt drastisch. Aber was bedeute das genau, fragt Berry. „Wenn ein Kind sagt: ‚Ich ficke deine Mutter‘, ist das schon sexualisiertes Verhalten?“ Wenn ja, könne man im Gesundbrunnen-Center einen Stein werfen – und treffe sicher ein Kind mit sexualisiertem Verhalten. Berry spricht mit einer Kollegin, die die Familie kennt. Ihre Einschätzung: Es besteht keine akute Gefahr. Die Sache kann ein paar Tage warten.

Die Gesellschaft ist sensibilisiert

Warum das Jugendamt heute immer häufiger gerufen werde, begründet Berry auch mit der Entwicklung im Viertel. Im Soldiner Kiez gebe es viele Menschen mit zu wenig Geld und Wohnraum. „Wer konnte, ist weggezogen.“

Doch das erklärt nicht den Anstieg in ganz Berlin. Fragt man in den Jugendämtern und unter Jugendpolitikern nach den Ursachen, hört man unterschiedliche Begründungen. In den Großsiedlungen ballten sich die Probleme, heißt es aus Marzahn-Hellersdorf. Auch in bürgerlichen Kiezen steige der Hilfebedarf, etwa aufgrund von Trennungen der Eltern, berichten Politiker aus Steglitz-Zehlendorf. Immigrierte Familien aus Kriegsgebieten seien oft traumatisiert, heißt es im Wedding.

Vor allem hört man immer wieder eine Erklärung: Die Gesellschaft sei durch Medienberichte sensibilisiert. Es würden schlicht mehr Fälle gemeldet als noch vor einigen Jahren, weil Schulen und Bevölkerung genauer hinschauten.

Man muss ein Stück über Berlin hinausgehen, will man wissenschaftliche Hintergründe erfahren. In Dortmund stellte ein Forscherteam jüngst Zahlen für ganz Deutschland vor: Auch bundesweit stiegen demnach seit 2006 die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung massiv an.

Maud Zitelmann, Pädagogik-Professorin in Frankfurt am Main, sieht die Gründe dafür vor allem in der Angst der Behörden: „Seit klar ist, dass die Jugendämter in strafrechtlicher Verantwortung stehen, sind sie vom Dienstleister für die Eltern zum Kontrolleur geworden.“ Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, wie etwa 2006 durch den Fall des getöteten Kevin in Bremen, habe ein Übriges getan. „Wir gehen davon aus, dass die Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern nicht grundsätzlich mehr geworden ist, es wird jetzt nur öfter reagiert“, so Zitelmann. Im Prinzip eine erfreuliche Entwicklung. Dass den Jugendämtern dafür ausreichend gut ausgebildetes Personal fehle, sei die andere Seite der Medaille, klagt die Professorin.

Bei Barbara Berry in Wedding klopft es an der Tür. Eine Kollegin steckt den Kopf herein. Sie betreut die drei Kinder, die gestern zu ihrer Großmutter gebracht wurden: „Die Lage dort ist auch nicht so toll. Da können sie nicht langfristig bleiben.“ Immerhin seien die Kinder in die Schule gegangen. Für Montag organisiert sie ein Treffen mit der Betreuerin vom Gericht, der Mutter und anderen Angehörigen.

Kurz darauf wird es laut im Flur. Eine Romni in langem pinken Rock steht da, ihr Baby auf dem Arm. Drei weitere Kinder wuseln um sie herum. Täglich komme sie her und bitte um eine Wohnung, erzählt Berry. Die Frau weint. Die zuständige Mitarbeiterin ringt um Fassung. Barbara Berry sagt zu der Mutter: „Sie müssen warten, bis wir anrufen.“ Sie schickt sie weg. Die Roma-Familie habe keinen Anspruch auf Sozialleistungen, erklärt sie hinterher. „Die Frau tut mir leid. Aber da kann ich mit meinen Mitteln nichts machen.“

Wer beim Jugendamt arbeitet, hat häufig mit schweren Schicksalen zu tun. Die Gefahr, dass im eigenen Verantwortungsbereich mal etwas wirklich schiefgeht, besteht immer.

Vor Jahren hat Berry eine Mutter mit Säugling betreut. Die Mutter ließ das Kind bei einem Bekannten. Der packte das Baby an den Beinen und schleuderte es mit dem Kopf gegen die Wand. Es überlebte, ist seitdem aber behindert.

Ein Schock, auch für Berry. Aber der Bekannte sei vorher nie aufgetaucht, sagt sie. Als zuständige Sozialarbeiterin hätte sie das Unglück nicht verhindern können.

Berry hat sich nichts vorzuwerfen. Bis jetzt – je mehr Fälle sie zu betreuen hat, desto größer die Gefahr, etwas zu übersehen.

Dem Senat ist das Problem bekannt. Auf Anfrage verweist die Jugendverwaltung auf das Modell eines Musterjugendamts, das man schon 2010 vorgestellt habe. Es sieht einen Standard von rund 50 betreuten Fällen pro Jugendamtsmitarbeiter vor. In der Realität berichten die MitarbeiterInnen inzwischen von Spitzen bis zu 120 Fällen, 80 bis 90 seien keine Seltenheit.

Doch der Senat sieht sich dafür erst mal nicht zuständig. Das Land hatte zwar gemeinsam mit den Bezirken 2012 einen Stellenabbau ausgehandelt. Die Entscheidung, wo genau gespart werde, liege aber „in alleiniger Verantwortung der Bezirke“, heißt es von der Pressestelle der Jugendverwaltung. Die Bezirke wiederum verweisen auf den Spardruck, der eine ausreichende Personalausstattung für die Kinder- und Jugendhilfe unmöglich mache.

Die Situation ist verfahren. Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat den Bezirken kürzlich einen Brief geschrieben mit der Bitte, die Personalsituation zu schildern und einzuschätzen, ob das Kindeswohl gefährdet sei. Auf dieser Grundlage wolle man erneut ins Gespräch kommen, sagt ihr Sprecher. Wie eine Lösung aussehen könnte, ist derzeit nicht absehbar.

Wer Berry einen Tag begleitet, dem schwirrt bald der Kopf, so viele erschütternde Geschichten laufen über ihren Schreibtisch: ein HIV-krankes Baby, das in Obhut genommen wurde; Eltern, die mit ihrem Sohn überfordert sind; für heute steht noch ein Hausbesuch um die Ecke an. Nach dem Papierkram macht Barbara Berry am späten Nachmittag Feierabend. Sie sagt, das sei ein ruhiger Freitag gewesen.

Die drei Kinder aus der Wohnung ohne Strom und Essen müssen einige Tage später doch noch von der Polizei geholt werden. Mutter und Großmutter hielten sich nicht an die Vereinbarung, sie bei der Oma zu lassen – die Kinder landeten wieder bei der Mutter. Das Jüngste wohnt jetzt bei einer anderen Verwandten. Die beiden Älteren, 7 und 9 Jahre alt, leben in einer rund um die Uhr betreuten Wohngruppe.