„Der Abend würde so werden wie dieser Blick: eisig“
: Der Karpfen

Der Karpfen war schuld. Ich mag nun mal keinen Fisch. Aber dieser Blick aus ihren hellblauen Augen erwischte mich kalt. Ich hatte gerade einen Fehler gemacht, keine Frage. Und der Abend würde so werden wie dieser Blick: eisig.

Andreas Mutter hatte uns zum Festessen geladen, an jenem 1. Weihnachtsfeiertag vor 16 Jahren. Uns! Es schien, als würde sie mich bereits akzeptieren, obwohl ihre einzige Tochter doch gerade erst vier Jahre mit mir zusammenlebte. Andrea war ob dieser Einladung außer sich vor Freude gewesen, und sie hatte mich um mein zuvorkommendstes Wesen gebeten. Natürlich, hatte ich ihr versichert, obwohl mir immer etwas beklommen zumute war in dieser Villa, deren Entrée fast so groß ist wie das Haus meiner Eltern. Wie sollte das erst bei diesem quasi offiziellen Anlass werden? Ich würde auf das Charmanteste Konversation machen, hatte ich Andrea dennoch versprochen, und sie hatte mir noch mal die Sache mit den unterschiedlichen Weingläsern erklärt.

Und dann das! Leichthin erkundigte ich mich nach dem Hauptgang und Andreas Mutter lächelte versonnen: „Meine Spezialität“, sagte sie, „Karpfen blau“. „Oh“, entfuhr es meinen Lippen. Andrea erstarrte und ich wusste, jetzt würden nur noch allergepflegteste Konversationskünste den Schaden in Grenzen halten können. „Oh, schön“, hörte ich mich stammeln, „wird schon schmecken.“ Und dann traf mich dieser Blick.

Ein paar Monate später zog Andrea aus, ihr Auto und Waschmaschine nahm sie mit. Unsere nächtelangen Krisengespräche waren im Wust gegenseitiger Vorwürfe gescheitert: „Du hast dich benommen wie der letzte Dorftrottel“ – „Du hast mich in diese Karpfenfalle stolpern lassen.“

Es mag, das sei gestanden, nicht der einzige Grund für unsere Trennung gewesen sein, aber die Fakten sind unbestreitbar: Mit dem sorgenfreien Leben an der Seite einer Millionenerbin ist’s Essig – und Karpfen habe ich nie wieder eines Blickes gewürdigt. SVEN MICHAEL VEIT

Oh lodernd Feuer

Aus uns würden später drei Schauspieler werden, gar kein Zweifel. Meine Schwester, mein Bruder und ich – die Schauspieler-Geschwister, das klang doch gut. Unser Durchbruch sollte „Quo vadis?“ werden, in der eigens von uns geschriebenen Bühnenfassung. Mein Bruder, der damals etwas zum Dicklichsein neigte, gab einen veritablen Nero ab. Ich hatte mir die Rolle des glutäugigen Marcus Vinicius gesichert. Meine Schwester spielte alle Frauenrollen, was immer bei den Szenen problematisch wurde, in denen sich Lygia und Eunice begegneten. Geübt wurde abends unterm Dach, heimlich natürlich. Denn ein bisschen peinlich wäre uns das schon gewesen, von unseren Eltern in Toga und Tunica aus Gardinenstoff erwischt zu werden, wo wir doch schon schwer auf dem Weg zum Erwachsenendasein waren. Jeden Abend brannte Rom bei uns unterm Dach, und nur der Vinicius fuchtelte unbeholfen mit einem Kinderbillard-Queue als Schwertersatz in der Luft herum, arg amateurhaft. Also wanderte ein Plastikschwert auf dem weihnachtlichen Wunschzettel – das wurde auch auftragsgemäß geschenkt –, und nachdem Oma ihren Standardsatz „Ist sowieso mein letztes Weihnachten“ angebracht hatte und die Eltern ins Bett geschickt waren, marschierten die Laiendarsteller unters Dach und warfen sich in römische Kluft.

Es muss in dem Moment gewesen sein, als Nero die Lyra schwang und dichtete: „Oh lodernd Feuer, oh göttliche Macht“, als Tigellinus, der Chef der Prätorianergarde, rollenwidrig ausrief: „Ich glaub, ich höre Schritte auf der Treppe.“ Improvisation ist alles im darstellenden Gewerbe, also schnell raus aus dem antiken Wams und rein in den Pyjama, was nicht ganz so einfach war, weil an den Kostümen hartnäckige Broschen steckten. Das ging also alles viel zu langsam mit der Folge, dass die Tür sich öffnete und Oma im Raum stand. Sie erblickte eine nackte 16-Jährige auf der Suche nach ihrem Nachthemd, zwei zwölf- und neunjährige Jungs, die sich die Bettdecke übergeworfen hatten und nur mit der Nase noch unter ihr hervorschauten. Was sich eine 78-jährige Paderborner Katholikin dabei dachte, mochten wir uns gar nicht ausmalen.

Mussten wir auch nicht. Dem Satz: „Das hätte ich von euch nicht erwartet“, folgte eine knallende Tür und die Schritte wurden leiser. Dann knallte die nächste Tür, und es erklangen die Glocken des Bamberger Doms. Immer wenn Oma beleidigt war, hörte sie Weihnachtsplatten.

„Quo vadis“ ist nicht mehr zur Aufführung gelangt. PETER AHRENS

Die Sau auf dem Sofa

Harmonisch. An diesem Abend sollte alles ganz harmonisch sein. Wochenlang hatten Mama und Papa kein gutes Haar aneinander gelassen. Türen waren ins Schloss geknallt (Papa), Tränen bächeweise geflossen (Mama). Und nun, am Heiligen Abend, sollten wir die glückliche, ins Kerzenmeer träumende, traute Familie geben, die zur James-Last-Weihnachtsplatte besinnliche Lieder sülzt: Oh, du fröhliche!

Die verordnete Harmonie widersprach meiner Grundstimmung. Hatte mich Papa doch sorgsam mit mitternächtlichen Extrarationen spannender Spätfilme vollends auf seine Seite gezogen. Mit halb geschlossenen Augen konnte ich meinen Mitschülern in der 2. Klasse von Action-Szenen berichten, deren Ausstrahlungszeit jenseits ihrer Vorstellungskraft lag. Glotzen bis zum Sendeschluss war geil und Papa echt super. Während der stillen Filmsequenzen hatte er mir nahe gebracht, dass diese Frau, die frecherweise behauptete, meine Mutter zu sein, weder ihn noch mich lieb habe und mit ungeheuerlichen Forderungen – etwa arbeiten zu gehen oder mal was alleine unternehmen zu wollen – uns gänzlich im Stich zu lassen gewillt war. Ich war empört. Mir hatte sich diese gemeine Ader meiner Mutter zwar noch nicht erschlossen, doch in einem war ich ganz sicher: Väter, mit denen man Krimis gucken kann, bis einem die Augendeckel zuklappen, können nicht lügen.

Und nun mit dieser Frau gemeinsam Weihnachtslieder singen? Das machte einfach alles überhaupt keinen Sinn. War ich doch gewillt, Papa heldenhaft in seinem Kampf gegen dieses weibliche Ungetüm beizustehen, das nicht mal bereit war, mir die Schnürsenkel zuzubinden (da war Papa ganz anders!). Kampfeslustig stapfte ich auf eine Weihnachtskugel. Mein tannenbaumschmückender Vater, kein Mann mit stählernen Nerven, raunzte mich an, ich solle mich gefälligst neben meiner Mutter auf der Couch platzieren. Ich??? Zu meiner Mutter setzen??? Das ging nun zu weit. Ich protestierte kraftvoll ob der unmoralischen Aufforderung: „Mit dieser alten Sau setz’ ich mich doch nicht auf ein Sofa!“

Musste ich auch nicht. Meiner Mutter schossen erst die Tränen aus den Augen (typisch!), dann schoss sie aus dem Zimmer und kurz darauf aus dem Haus (endlich!). „Sie ist weg“, jubilierte ich und hoffte auf väterliches Lob. Das blieb zu meiner Verwunderung aus. „Fernsehkucken, Papa?“ fragte ich erwartungsvoll. „Nein!“ – „Papa …?“ – „Raus!“

Obwohl meine Mutter nicht wiederkam (Papa nannte das Scheidung – komisches Wort!), war es vorbei mit dem Mitternachtsprogramm. Und plötzlich erzählte Papa, dass sie eigentlich die beste, tollste, liebste Frau, Mutter, Köchin und so weiter gewesen sei. Seit diesem Abend bin ich im Zweifel, ob Väter, die mit einem bis zum Abwinken superspannende Filme gucken, immer die Wahrheit sagen. Zumindest sind sie ziemlich wankelmütig. MARCO CARINI

Von Herzen

Mir schenkt auch keiner was! Die Postbotin muss natürlich was kriegen. Von meinem letzten oder vorletzten Geburtstag ist noch die Großpackung Mon Chéri da. Und eine halbe Flasche 54-prozentiger Rum, der vom Rumtopf übriggeblieben ist. Den kriegt aber die Müllabfuhr. Dann ist da noch das Doppelpack Asti Cinzano, von der Untermieterin Anti Cinzano genannt, den hat mir der Bademeister aus dem zweiten Stock geschenkt, weil ich immer seine diskret verpackten Pakete annehme, wenn er nicht zu Hause ist.

„Zur Anregung“, sagt er. (Ich möchte ja nicht wissen, was in seinen Paketen drin ist.) Das wäre jedenfalls was für den jungen Mann vom Hamburger Abendblatt. Junge Menschen mögen ja gern was Süßes. Meine Schwester kriegt eine Autogramm-Postkarte von Gitte, die ich ihr vor 25 Jahren geklaut habe, und mein Schwager? Irgendwo muss noch das T-Shirt rumliegen, das ich mal auf einer Tombola gewonnen habe: „Achtung, hier kommt ein Arschloch“.

Mutter? – Die Briefe, die sie mir geschrieben hat, als ich mich damals mit Robert verlobte, den sie für einen „Filou“ hielt, womit sie an sich Recht hatte. Letztes Weihnachten hat sie mir alle Kreuzstichdeckchen gegeben, die ich ihr jemals geschenkt hatte. Ich hätte jetzt ja wohl Zeit, die mal zu Ende zu sticken. Meine Schwester kriegte übrigens von ihr all die Flaschen Frauengold zurück, was zu einem Lach- oder Weinkrampf meiner Schwester führte, jedenfalls peppte das den Heiligabend ziemlich auf.

Papa – das ist kein Problem. Der kriegt seit fünf Jahren denselben Schlips, weil ich den gleich nach der Bescherung immer einstecke. Die Untermieterin ist leicht. Ich habe eine Sammlung von einzelnen Socken und Unterhosen, die sie immer in der Waschmaschine liegen lässt, wenn sie gewaschen hat. Die kommen in eine Mülltüte, rote Schleife drum und fertig.

Wer ist da noch? Harry! Der erwartet was Persönliches, Gott bewahre. So schwer ist das aber auch wieder nicht. Ich singe ihm alle Weihnachtslieder, die ich kenne – und ich kenne alle! – auf seinen Anrufbeantworter, bis der voll ist. Persönlicher geht’s ja wohl nicht. Übrigens werde ich über Weihnachten verreisen.

FANNY MÜLLER

Luise Wilhelmine

Es war einer dieser unseligen 24. Dezember, an dem das Grauen der Besinnlichkeit eskalierte. Dass sie Oma ausgerechnet in der Heiligen Nacht achtkantig rausschmeißen würden, habe ich selbst meinen Eltern nicht zugetraut. „Ich will nicht, das sie kommt“, zeterte meine Mutter wie üblich, weil sie Schwiegermutters gnadenlose Zunge fürchtete. Vergeblich. Fidel und kratzbürstig erschien Luise Wilhelmine – damals hoch in den achtzigern – zur Kaffeezeit.

Schon zuckte es böswillig um ihre Mundwinkel: Der Tisch nicht gedeckt, ihr Sohn „unanständig“ gekleidet, ich ungekämmt, spie sie uns entgegen. Und es röche widerlich angebrannt. Womit sie recht hatte.

Unsere Nerven aber waren schon strapaziert: Erst das Gekläffe zwischen Vater und Sohn beim Versuch, den Tannenbaum gerade aufzustellen („Du bist doch nur ein Ersatzteil!“ – „Ich bin Dein Vater!“). In der Hochphase der hektischen Vorbereitungen wünschte wie immer „ein gesegnetes Fest auch“ Tilo, meine Jugendliebe, dem die Familie noch heute hinterher trauert, und der auch nach all den Jahren jedes Mal den Punkt verpasst, an dem es höchste Zeit wäre zu gehen. Und schließlich Luise Wilhelmine.

In Ermangelung eines Hörgeräts kann sie unserem rücksichtslosen Flüstern nicht folgen. Zur Strafe zerbricht sie ihre Kaffeetasse. Die Kekse sind zu süß, der Braten zu zäh, meine Mutter zu dumm: „Sei du mal still, wenn Akademiker sich unterhalten.“ Erstes Stirnrunzeln meines Vaters. Bildung hin oder her – niemand soll seine Frau beleidigen. Doch Oma gerät jetzt erst in Fahrt: Die Kinder „schlecht erzogen“, wir alle „auf dem besten Wege, mich ins Grab zu ärgern“. Alles schreit durcheinander. Das erste ehrliche Weihnachtsfest. Irgendwann fliegen die Geschenke für Oma achtlos in einen Korb, die von ihr mitgebrachten obendrauf – nur Pralinen, stelle ich erleichtert fest. Dann hebt mein Vater die strampelnde Frau hoch, setzt sie vor der Haustür ab und dreht den Schlüssel um: „Haaalllellluuujaaa.“ Nie habe ich ihn so herzergreifend singen hören.

Leider will sich niemand im nächsten Jahr an den Spuk erinnern. Luise Wilhelmine ist wieder da. Die Pralinen beschert sie uns erneut. Ranzige Schokolade ist eine fiese Rache.

HEIKE HAARHOFF