Ist Erdogan jenseits von Gut und Böse?
JA

ZORN Er beschimpft sein Volk, schaltet Twitter ab und lässt Demonstranten verprügeln. Jetzt will der türkische Premier Präsident werden

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Lale Akgün, 60, SPD, ist Autorin des Buches „Aufstand der Kopftuchmädchen“

Die Türkei war nie ein Musterbeispiel für Demokratie, aber nun ist sie undemokratischer denn je. Erdogan hält sich für jenseits von Gut und Böse, ein Autokrat, der den Kult um seine Person inszeniert und genießt. Dabei gibt es viele Vorwürfe: Korruption, Eingriffe in Rechtsprechung und Rechtsetzung, Kontrolle der Exekutive. Eine demokratische Gewaltenteilung existiert nicht mehr. Mit seiner zur Schau gestellten Frömmigkeit instrumentalisiert Erdogan den Glauben. Der Islam dient ihm als politische und gesellschaftliche Ideologie der „neuen“ Türkei. Doch wer es wagt, Kritik auszusprechen, erlebt, dass die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist. Wer Glück hat, verliert „nur“ seinen Arbeitsplatz; wer Pech hat, landet im Knast. In der Pressefreiheitsliste von Freedom House schaffte es die Türkei nur auf Platz 134; im Ranking des Weltwirtschaftsforums zur Justizunabhängigkeit ist sie auf Platz 85. Erdogans Machtgier ist beträchtlich: Er will „exekutiver“ Präsident werden, was auch immer das bedeuten mag. Wenn er dieses Ziel wirklich erreicht, dann: Gute Nacht, Türkei.

Laurent Mignon, 42, lehrt zeitgenössische türkische Literatur an der Universität Oxford

Erdogans Reaktion auf das Minenunglück in Soma hat gezeigt, dass er den Bezug zur Realität verloren hat – und den politischen Durchblick. Vorbei sind die Jahre, in denen er an kemalistisch-nationalistischen Tabus rüttelte: Er entmachtete das Militär, ging die Kurdenfrage und den Streit um Zypern an. Heute gehen sein religiöses Sektierertum und sein autoritärer Politikstil mit zunehmend erratischem und – wenn man jüngsten Videos glaubt – gewaltsamem Verhalten einher. Doch sein Vergleich von Soma mit den britischen Grubenunglücken des 19. Jahrhunderts ist so falsch nicht: Die zügellose Profitgier und die desaströsen Arbeitsbedingungen in der Türkei unter Erdogan wecken Erinnerungen an Engels Schilderungen in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“.

Julia Klöckner, 41, ist Fraktionsvorsitzende der CDU in Rheinland-Pfalz

Erdogan mag sich unverwundbar fühlen, weil ihm viele zujubeln. Pressefreiheit? Egal. Religionsfreiheit? Nicht für Christen. Die Jubler stört das nicht. Und die Demonstranten? Abgetan als intellektuelle Spinner. Mit Soma trifft Erdogans Kälte jetzt aber auch die Landbevölkerung. Wo Mitgefühl für die eigenen Leute fehlt, wird Brückenbau schwierig. In Köln sucht Erdogan nun den Schulterschluss mit Anhängern in Deutschland. Je mehr ihm zujubeln, desto größer wird der Graben zur EU. Nie war Erdogan uns so fern wie jetzt. Und noch nie mussten die Brückenpfeiler eine solche Last tragen.

Angelika Zeller, 61, Sozialarbeiterin, hat unseren Streit per E-Mail kommentiert

Erdogans korrupter Regierungsstil ist bekannt. Eine weitere Facette ist sein Gigantismus. Deutlich wird dies in Istanbul: Unter Aufsicht von Erdogans Schwiegersohn baut hier die Celik Holding ein „neues Istanbul“, eine Megacity: Neben einer dritten Bosporusbrücke und dem größten Flughafen Europas soll es einen Kanal geben, der das Schwarze mit dem Marmarameer verbindet. Historisch gewachsene Stadtviertel sind schon dem Erdboden gleichgemacht oder stehen kurz davor, wie der Stadtteil Tarlabași. Profitieren wird von den Hochglanzimmobilien vor allem eine kaufkräftige Mittelschicht. Denn die ehemaligen Bewohner, die jetzt am Rand der Stadt leben, können sie sich nicht leisten.

NEIN

Ozan Ceyhun, 53, saß für Grüne und SPD im Europaparlament. Heute berät er die AKP

Ich bedauere zutiefst, dass das Bild von Herrn Erdogan in Deutschland so verzerrt ist. Er hat eine jahrzehntelange nationalistische und kemalistische Oligarchie und Militärherrschaft beendet. Er hat den Terror im Südosten der Türkei bekämpft und den türkischen und kurdischen Müttern viele Tränen erspart. Er ist der erste türkische Regierungschef, der den Armeniern die Hand gereicht und eine faire Lösung des Zypernkonflikts unterstützt hat. In der Türkei wird nicht mehr gefoltert, die Bevölkerung genießt Menschenrechte und Pressefreiheit. Als Opfer der Militärjunta weiß ich genau, wovon ich schreibe. Unter Erdogan ist die Türkei eine moderne, soziale Demokratie geworden.

Hayati Kazanci, 45, arbeitet als Gemüsehändler in einem Supermarkt in Berlin

Natürlich kann man Erdogan noch unterstützen. Unter seiner Führung hat sich die Türkei in den letzten elf Jahren enorm verändert: Die Qualität der medizinischen Behandlung ist gestiegen, überall gibt es neue Straßen. Während Europa in der Krise versinkt, wächst die Türkei immer weiter. Doch der Hauptgrund, warum wir Erdogan lieben, ist ein anderer: Er ist ein Mann aus dem Volk, kein abgehobener Intellektueller, ein echter Osmane eben. Erdogan hält, was er verspricht. Er hat keine Angst – auch nicht vor Europa.

Ceren Kenar, 29, arbeitet für die regierungsnahe türkische Tageszeitung Türkiye

Grassierende Korruption, ein Staatsapparat, der nicht mit Demonstranten umgehen kann, Medien, die ihre Funktion nicht erfüllen – alles Erdogans Schuld? Das ist nicht nur reduktionistisch, sondern auch irreführend. Der Premier ist weder Menschenrechtsaktivist noch Diktator. Er ist Chef einer Volkspartei, die verschiedene, auch widersprüchliche Stimmen repräsentiert. Das war er auch schon, als man ihn im Ausland noch als Reformer feierte. Er ist beides: ein Vorreiter, der den Mut hat, Friedensgespräche mit der PKK zu führen. Und ein Premier, der wichtige gesellschaftliche Veränderungen verschläft und keine Toleranz für säkulare Demonstranten hat. Er ist der erste türkische Politiker, der sich glaubhaft für den Völkermord an den Armeniern entschuldigt hat – und ein Mann, dessen Rhetorik spaltet. Doch seine Basis schätzt ihn: Erdogan steht für eine Identität, die lange verfolgt und verleugnet wurde. Die religiösen Schichten, die dank Erdogan nun die Mittelschicht bilden, wollen Teil des Establishments werden. Erdogan ist der Einzige, der diese Hoffnung glaubhaft verkörpert.

Eren Güvercin, 33, schrieb „Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“

Gestern gefeierter Reformer, heute der Depp der Nation? In dieser turbulenten Phase dominieren in der Türkei, aber auch bei uns in Deutschland die einfachen Bilder. Einige verehren Erdogan blind. Andere verteufeln ihn und schwadronieren von einer Diktatur. Nein, Erdogan ist nicht jenseits von Gut und Böse. Aber was die Türkei dringend benötigt, ist eine Opposition, die nicht auf Chaos und Gewalt setzt, sondern auf konstruktive Beiträge. Bisher dominiert auf beiden Seiten ein Freund-Feind-Denken. Aber auch viele unserer deutschen „Qualitätsjournalisten“ haben dieses Schwarzweißbild verinnerlicht, ohne jegliche Form von Kritik an den „lupenreinen Demokraten“ auf der Straße. Ihre Molotowcocktails übersieht man gerne. Nicht dass es am Ende die deutschen Medien sind, die bald jenseits von Gut und Böse sind.