Konkurrenz für den Muezzin

KULTURAUSTAUSCH Walter Benjamin im Marmorbecken, neue Liebeslieder an der Wand: Bei Kunst im öffentlichen Raum kommt es zu besonders intensiven Begegnungen. Eine Türkei-Rundreise

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der Bus des British Council entlässt seine Passagiere dort, wo der Yavuz Selim Bulevard – auf eine Mauer gestützt – den Stadtteil Cömlekci überquert. In der Dunkelheit beginnt der Muezzin der nahe gelegenen Moschee zu rufen. Ab sofort hat er Konkurrenz. Denn in die Dunkelheit hinein ruft nun ein anderes Lied: „Asik olan dogru söyler, Haksizliga sitem eyler“ – „Der, der liebt, spricht die Wahrheit und beklagt die Ungerechtigkeit“, hat die finnische Künstlerin Minna Henriksson in grellroter Neonschrift an die Stützmauer geschrieben. Die Zeile stammt aus einem Song von der Psychodelic-Folk-Rockband Üc Hürler, die in den 1970er Jahren berühmt war. Die Band stammt aus Trabzon, einer der ältesten Handels- und Hafenstädte Anatoliens.

Die Neoninstallation ist eines von drei Elementen der Arbeit, die Minna Henriksson in der Millionenstadt am Schwarzen Meer realisiert hat. Sie entstand im Rahmen von „My City“, dem Beitrag des British Council zum Cultural Bridges Programm der EU. Mit ihm sucht die Europäische Union den Kulturaustausch ihrer Mitgliedsländer mit der Türkei zu fördern. „My City“ setzt dazu auf Kunst im öffentlichen Raum. In den Städten Istanbul, Konya, Mardin, Canakkale und Trabzon realisierten nun fünf Künstler aus Polen, Finnland, Großbritannien, Österreich und Deutschland je eine Arbeit. Umgekehrt nehmen fünf türkische Künstler an einem Artist-in-Residence-Programm in Warschau, Berlin, Dortmund, Helsinki, Wien und London teil.

Minna Henriksson hat sich für ihre Arbeit mit jungen Leuten aus Trabzon zusammengetan. Sie kommen sowohl vom Kinder- und Jugenderziehungszentrum der Stadt als auch von der Theaterakademie, der Kunsthochschule und vom Fachbereich Architektur der Technischen Universität. Alle brachten sie ihre Sicht auf die Stadt und ihr Alltagsleben zum Ausdruck. Ihre Fotografien, Zeichnungen, Stadtpläne und kleinen Erzählungen führten einer Ausstellung und zu einer Art alternativem Stadtführer. Auch die Gründung einer Band durch vier Jungs aus dem Erziehungszentrum gehört in die Reihe dieser Manifestationen, die eine andere Geschichte der Stadt Trabzon erzählen wollen. Denn die größte Hafenstadt des Schwarzen Meeres ist vor allem als Hochburg des türkischen Nationalismus bekannt. Die Mörder des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink entstammen einer rechtsradikalen Jugendgang aus Trabzon, dort erschoss auch ein 16-Jähriger den katholischen Geistlichen Andrea Santoro.

Henrikssons Ansatz aus Stadtsoziologie und Sozialarbeit ist nicht übertrieben forciert. Auch wenn dies einige Teilnehmer der Reisegruppe – neben den Künstlern, den Kuratoren, den Leuten vom British Council und von der EU je zwei Journalisten aus den Ländern der Künstler – so empfanden. Verständlich, dass sich die Künstlerin jugendliche Verstärkung holt, wo sie das Lied der Pop- und Jugendkultur gegen das religiöse und nationalistische Lied stellt. Dass sie mit den Jugendlichen Workshops veranstaltet, mit ihnen debattiert, ihnen Musikinstrumente und -unterricht besorgt – immerhin fühlen sich die durch ihr Beispiel ermutigt, es selbst zu probieren.

Auch Joanna Rajkowskas Arbeit „Walter Benjamin in Konya“ ist dreigeteilt: in ein Buch, einen Kurzfilm und ein flaches, rundes Marmorbecken, in dessen teils von Wasser bedeckten Grund sie spiralförmig einen Auszug aus Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ eingravierte. Konya, die Industriestadt im Herzen des anatolischen Hochlandes, die ein Zentrum der landwirtschaftlichen Produktion ist, gilt als besonders religiös. Gern wird sie die „die grüne Hauptstadt der Türkei“ genannt, wobei Grün hier die Farbe des Islam meint. Gleichzeitig ist Konya die Heimatstadt der Mevlevi-Derwische. Nach deren Verständnis kann Gottesliebe auch durch künstlerisches Schaffen bezeugt und nacherlebt werden.

Politische Implikationen

Dieses Erbe scheint in den Reden des Bürgermeisters und des Gouverneurs auf, die in der Mittagshitze bei der Einweihung des Brunnens mit großem Engagement für das Kunstwerk werben – mitsamt seinen in der Stadt sehr wohl bemerkten politischen Implikationen. Denn Rajkowska setzt sich in ihrer Arbeit mit der 1928 von Mustafa Kemal Atatürk erlassenen Sprachreform auseinander, durch die sich das Türkische erst zu seiner heutigen Form entwickelte. Es wurde also nicht einfach nur die arabische gegen die lateinische Schreibweise des Türkischen ausgetauscht, es wurde auch das osmanische Türkisch für obsolet erklärt, das zuvor für administrative und literarische Zwecke verwendet worden war.

Diesen kemalistischen Kraftakt kommentiert nun – in ebenjenem osmanischen Türkisch, in Deutsch und schließlich in modernem lateinischen Türkisch – Walter Benjamin. Nach ihm entsteht erst mit der Übersetzung das sogenannte Original. Entsprechend wäre die Idee einer unverändert gültigen, ursprünglichen Wahrheit ein Effekt von „Wandlung und Erneuerung“ (worin Benjamin die Aufgabe des Übersetzers sieht), weshalb auch Benjamins Textfragment endlos, derwischgleich, im Marmorbecken kreist.

Es könnte, in seiner zurückhaltenden Eleganz, genügend Zuspruch in und von einer kunstfremden Umgebung erhalten, damit der Titel des Programms, „My City“, mehr darstellt als nur einen aufgepappten Slogan. Ob sich Clemens von Wedemeyers Freiluftkino in diesem Sinne in Mardin bewähren wird, bleibt abzuwarten. Schon deshalb, weil unklar ist, wie lange sich die Konstruktion seiner Leinwand bewährt. Schließlich muss sie den allabendlichen thermischen Winden trotzen, die sich an ihrem Standort, einem Berghang unterhalb der Altstadt von Mardin, bilden, von wo aus man die unendliche Weite des mesopotamischen Tieflandes überblickt. Am Eröffnungsabend sahen sich die Besucher von „Sun Cinema“ jedenfalls mehr mit dem Sandsturm als den gezeigten Filmen konfrontiert.

Nun gut, nach der Eröffnung soll der Projektor auch anderswo in der Stadt eingesetzt werden und die Leinwand nur noch den Sonnenuntergang zeigen, den ein riesiger Spiegel auf sie projiziert. Doch gerade hat sich in Mardin erfolgreich ein kleines Filmfestival etabliert, initiiert von der Mardin Cinema Association, die die Leinwand vielleicht auch andernorts gut gebrauchen könnte. Mehr Sozialarbeit und weniger Kunstdiskurs, stärkere Zusammenarbeit mit den von Wedemeyer einbezogenen Filmfreunden und weniger Architektenworkshops – ob der Leinwand – hätten hier wohl nicht geschadet.

Auch der britische Künstler und Turner-Preisträger Mark Wallinger hat ein Kino gebaut. Es steht an der Uferpromenade von Canakkale, von wo aus man auf die Halbinsel Gallipoli schaut und auf einen dort in die Hügel eingelassenen Schriftzug, der besagt: „Wanderer, halte inne, hier ist der Ort, an dem die neue Türkei entstand.“ Tatsächlich lieferten sich hier die Ententemächte und das Osmanische Reich die verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs. Damals begann der Aufstieg von Mustafa Kemal (Atatürk).

Das Kino, ein aus rostigen Eisenplanken abgewrackter Schiffe zusammengesetzter Container, lädt fraglos zum Innehalten ein. Abgeschirmt kann man in seinem Innern über den sich zwischen Mittel- und Marmarameer bewegenden Schiffsverkehr meditieren, der auf der Leinwand zu beobachten ist. Dabei hinkt der Kinofilm stets 24 Stunden hinter dem Geschehen her, das von der Uferpromenade aus zu sehen ist.

Interessanterweise macht Wallingers künstlerisch stimmige, freilich mehr selbstreferentielle als ortsbezogene Skulptur erst richtig deutlich, dass das von der EU mit 1,6 Millionen Euro und vom British Council mit 470.000 Euro bezuschusste „My City“-Projekt im Political Think gezeugt wurde. Kunst- und Künstleraustausch oder öffentlicher Diskurs sind da nur ein Aspekt. Primär ging es darum, überhaupt ins Gespräch mit den politischen und kulturellen Zielgruppen in der Türkei zu kommen.

Das Goethe-Institut hat im Rahmen von Cultural Bridges Schriftsteller auf eine Bustour durch die Türkei geschickt. Bestimmt kam es dabei zu interessanten Begegnungen. Aber was das British Council während der lang andauernden Verhandlungen über die zeitgenössische Kunst im Stadtbild der anatolischen Provinz über die dortigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erfahren haben muss, das ist natürlich viel aufschlussreicher.

Debatten um die Aussicht

Wenige Projekte dürften die Verhandlungspartner so intensiv miteinander bekannt gemacht haben wie „My City“. Und wenige Projekte dürften weiterhin auch so bindend sein – tragen doch die Städte zukünftig für das Erscheinungsbild der verbleibenden Kunstwerke Sorge. Kunst im öffentlich Raum verheißt Imagegewinn, Bildungs-, Modernisierungs- und Teilhabeangebote. Wer für welches dieser Angebote ansprechbar ist, dürfte nun klar sein, selbst wenn nicht immer deutlich ist, wie sich hinter den Kulissen die Meinungsbildung gestaltete.

Direkt eine Debatte im und um den öffentlichen Raum anstoßen will der österreichische Künstler Andreas Fogarasi mit seiner Aussichtsplattform an der asiatischen Uferpromenade von Istanbul. Entgegen dem Titel „Panorma (The Right of View)“ verstellt eine Sichtblende mit umlaufenden Texten just den Blick über die Stadt, von dem sie handeln. Er muss immer teurer erkauft werden, in immer höheren Wohnlagen, denn traditionsreiche Sichtachsen fallen der städtischen Expansion zum Opfer.

Manchmal liest sich sein politisches Lamento wie ein Gedicht: „blocking a view, creating a view, commenting on a view, selling a view …“ – und dann spannt sich auch das Panorama der künstlerischen und gesellschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten weit auf.