GLOSSE VON LENA KIRSCHENMANN
UND RAPHAEL KÖSTERS
: Krankhaft in Eile

Seit ich existiere, habe ich nur ein Ziel: ganz groß rauszukommen! Ich will auf alle Titelseiten. In alle Live-Sendungen! Auf der ganzen Welt will ich mich ausbreiten. Deswegen befalle ich sie, die Ereignisse der Welt. Naturkatastrophen! Mord! Tote! Explosion! Zieht immer – dachte ich. Afrika zum Beispiel. Die Geburtsstätte des Chaos war eine Fundgrube für einen Liebhaber wie mich. Doch ich musste dazulernen. Hier und da mal ’ne Überschrift: Hungersnot, Bürgerkrieg, das übliche belanglose Zeug. Gedeiht nicht gut in westlichem Klima.

Meine neue Wirtszelle ist der Nahe Osten. Über Irak und Afghanistan infiziere ich die Welt. Pest und Cholera sind nie so weit gekommen! Massaker, Drogen und tote Nato-Soldaten. Nicht immer die Titelseite, aber ein Blinken in den Online-News krieg ich damit. Ich war erstaunt, dass die Flut in Pakistan nicht anfällig war. Gegen humanitäre Notfälle scheint sich eine Immunität ausgebildet zu haben. Deshalb warte ich in chronischen Entzündungsherden. Überträger finden sich. Zuletzt hat Sarrazin den Eiter weitergetragen. Diese Ausländer sind ein Reizthema. Für nationale Seuchen ansteckend genug. Genauso wie Hartz-IV-Empfänger. Mit deren Skandalen fahre ich besonders gut: „Sozialschmarotzer in Solarium erwischt. Ausländer sonnt sich, statt zu arbeiten!“ Hat ne hübsche Ausbreitungswelle verursacht.

9/11 war der größte Glücksfall meiner Karriere. Wenn ich mit moralischen Maßstäben messe – einer der wenigen Momente, in denen ich zu etwas Sinnvollem beigetragen habe. Von solchen Epidemien habe ich geträumt, als ich noch in meiner Keimzelle festsaß. Zum Glück kam irgendwann dieser griechische Läufer vorbei. Eilig hatte er es, rannte 42 Kilometer und dann ist er gestorben. Erschöpfung, sagen einige. Keiner weiß, dass ich ihn dahingerafft habe.

Mittlerweile ist die Welt kompliziert geworden. Ich kann mich so weit erstrecken, ich war schon überall, die ganze Welt habe ich ausgesogen. Aber nur so kurz, ach, so kurz. Ich konnte mich nicht festbeißen. Zu schnell war ich uninteressant. Schnee von gestern.

Aber ihr haltet mich nicht auf! Wie ihr euch verändert, verändere auch ich mich. Die Menschheit kann sich impfen, mit Reportagen therapieren, mit Recherchen balsamieren. Ihr werdet nie immun sein!