Kampf ums Recht

SUCHE NACH WAHRHEIT Die Aufarbeitung der argentinischen Menschenrechtsver-brechen ist in vollem Gange. Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hat dazu eine kleine Schrift verfasst, die Argentinierin Eva Eisenstaedt berichtet von einem konkreten Fall

Rus, polnische Jüdin, überlebte Auschwitz, ging 1948 nach Argentinien und begann ein neues Leben. 1976 verschleppten die argentinischen Militärs ihren Sohn Daniel

Von FRAUKE BÖGER

Die Suche nach Wahrheit ist immer mühsam. Oft ist sie vergeblich, gibt es doch keine, die für alle gleich wahr wäre. Geht es um historische Wahrheiten, gibt es immerhin Methoden, ihr so nah wie möglich zu kommen. Der 2004 verstorbene Historiker Reinhart Koselleck schrieb in einem Aufsatz über den „Sinn und Unsinn der Geschichte“, dass der historische Sinn erst dann erkennbar sei, wenn die Geschichte selbst vorbei ist. „Das aber setzt denknotwendig voraus, daß jede Geschichte in ihrem Vollzug selbst sinnlos ist“, schreibt Koselleck.

Den Sinn der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 – das „Verschwindenlassen“ und Ermorden von 30.000 Menschen, grausame Folter und systematische Unterdrückung – zu erkennen, war und ist für die Opfer, ihre Angehörigen, aber auch für viele Unbeteiligte und Wissenschaftler unmöglich. Für die Täter ist das zumeist anders: Hinter der Unbarmherzigkeit der Militärs stand ein politisches Ziel, die Vernichtung des politischen Gegners, dem sich fast alle Regierungen des Subkontinents verschrieben hatten. Es ist bewundernswert, mit welcher Hartnäckigkeit in Argentinien um die Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen heute gerungen wird und mit welcher Akribie individuelle Opfergeschichten recherchiert werden.

„Saras Akte ist dick. Sie wird zusammengehalten von einer ,Bauchbinde‘, als sollte verhindert werden, dass die Geschichte explodiert und sich in tausend Stücke auflöst. Fast unmöglich, sie zurückzuhalten“, schreibt Eva Eisenstaedt, die für den Jüdischen Verband der Überlebenden der Nazi-Verfolgung in Argentinien arbeitet, im Prolog ihres beeindruckenden Buches über Sara Rus.

Rus, polnische Jüdin und geboren 1927 in Lodz, überlebte Auschwitz, ging 1948 nach Argentinien, gründete eine Familie und ein neues Leben. 1976 verschleppten die Militärs ihren Sohn Daniel. „Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen?“, fragt Hannah M. Lessing im Vorwort des Buches, und beim Weiterlesen ist man immer wieder ergriffen und voller Respekt für diese Frau, die trotz all der ihr angetanen Grausamkeiten Lebensfreude und Humor bewahrt hat.

Rus’ Suche nach ihrem Sohn oder wenigstens der Wahrheit über sein Schicksal ist so unermüdlich wie vergeblich. Viele Briefe schrieben sie und ihr Mann an Behörden und Politiker überall auf der Welt, an ungezählte Türen klopften sie, und doch wird Rus wohl nie erfahren, was mit ihrem Sohn Daniel geschah, nachdem man ihn vor der Atomenergie-Kommission, wo er seine Doktorarbeit schrieb, aufgriff und verschleppte. „Es war ein wahrhaftiger Leidensweg, dieses Überall-Hingehen“, sagt sie in Eisenstaedts Buch.

Nach Sinn in der Geschichte zu suchen ist laut Koselleck vergeblich. „Statt dessen sollten wir zurückstecken und versuchen, das zu tun, was wir selbst sinnvoll ermöglichen können“, schreibt er. Dass es etwas gibt, was sinnvoll ermöglicht werden kann, hat Wolfgang Kaleck bewiesen. Der renommierte Berliner Menschenrechtsanwalt hat mehrere Klagen gegen argentinische Militärs in Deutschland eingereicht, unter anderem wegen der Ermordung eines Gewerkschafters von Mercedes Benz in Argentinien. In seinem Buch „Kampf gegen die Straflosigkeit – Argentiniens Militärs vor Gericht“ zeigt er, wie wichtig juristische Mittel für die Aufarbeitung sind. Nach dem Ende der Diktatur schützte eine weitreichende Amnestie die Täter, wenn auch viele Verbrechen von einer so genannten Wahrheitskommission dokumentiert und aufgearbeitet wurden. Doch internationale Menschenrechtsorganisationen, europäische und argentinische Strafverfolger oder die Mütter der Plaza de Mayo, hörten nie auf, Fragen zu stellen, Fakten zu sammeln und immer wieder neue juristische Vorstöße zu unternehmen.

Präsident Kirchner ließ die gesetzlichen Hindernisse für Strafprozesse gegen Militärs in Argentinien 2005 aus dem Weg räumen. Zahlreiche Verfahren sind seither im Gange, unter anderem das um die ehemalige Marineschule ESMA, die als Folterzentrum diente. „Die aktuelle Dynamik der Prozesse und der nebenher laufenden Ermittlungen überrascht selbst viele der unmittelbar Beteiligten“, schreibt Kaleck vor dem Hintergrund jahrelanger, auch internationaler Bemühungen und betont die „universelle Dimension“ der argentinischen Prozesse.

Strafprozesse sind, wenn sie ordentlich geführt werden, eine sehr systematische Form der Wahrheitssuche. Am Anfang stehen konkrete Fragen, die im Laufe des Prozesses mit Beweisen und Zeugen belegt oder widerlegt werden, und am Ende steht im besten Fall ein Urteil, das breite Anerkennung findet oder zumindest neue Inhalte für öffentliche Diskussion bietet. „Die auf diese Weise gefundene prozessuale Wahrheit mag nicht voll der historischen Wahrheit entsprechen, diese nicht erschöpfend behandeln. Sie hat dennoch einen besonderen Wert.“

In Argentinien weigern sich Militär und Polizei bis heute, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Die verbrecherischen Taten von tausenden Mitarbeitern der Diktatur, vor allem der unteren und mittleren Hierarchieebenen, sind bis heute nicht bekannt und nicht individuell zugeordnet.

Wie schmerzhaft es ist, keinerlei Anhaltspunkte für die tatsächliche Wahrheit zu bekommen, erlebte Sara Rus, seitdem im März 1976 ihr Sohn verschwand. Sie weiß nicht, was mit ihm geschah, konnte ihn nie beerdigen, und seine Mörder wurden nie verurteilt. Das Buch Eva Eisenstaedts, das Rus mit viel wörtlicher Rede selber sprechen lässt, ist ein Geschenk. „Sara hat es gewagt, Zeugnis abzulegen und mir die Fäden der Erinnerung, deren Duft, verwoben mit Bruchstücken ihrer Erfahrungen, anzuvertrauen und dadurch eine Vergangenheit lebendig werden zu lassen, die ihr für immer in Haut und Zellen eingegraben ist“, schreibt Eisenstaedt. Verbrechen wie die, die Sara Rus erlebt hat, erzählen viel von der auszuhaltenden Sinnlosigkeit der Geschichte. Es ist eine Wahrheit, die sich nur schwer finden oder beschreiben lässt und die auch mit zeitlichem Abstand erschüttert.

Eva Eisenstaedt: „Zweimal Überleben, Von Auschwitz zu den Müttern der Plaza de Mayo. Die Geschichte der Sara Rus“. Mandelbaum Verlag. Wien 2010. 152 Seiten. 15 Euro.

Wolfgang Kaleck: „Kampf gegen die Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht.“ Klaus Wagenbach Verlag. Berlin 2010. 128 Seiten. 10,90 Euro.