Eine Frage der Anerkennung

KULTUR UND KAMPF Wer ist schon integriert? Der französische Philosoph und Linguist Tzvetan Todorov richtet sich in „Die Angst vor den Barbaren“ gegen den kulturellen Rassismus unserer Zeit

Das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau zu verdammen, was soll falsch daran sein?

VON TANIA MARTINI

Dass Befreiung in Mythologie und Emanzipation in Barbarei umschlagen kann, gehört mittlerweile zum weithin bekannten, aber kaum berücksichtigten Wissen. Fortschritt und Zivilisation sind in den westlichen Demokratien untrennbar mit den Werten der Aufklärung verknüpft, mit Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit oder Demokratie. Und, vice versa, was derart mit Fortschritt und Zivilisation verbunden ist, so wird argumentiert, kann als universell gültig gelten. Denn, was sonst sollte menschliches Handeln zum Ziel haben? Und mehr noch, was sonst sollte das Menschsein an sich ausmachen? Diese Werte wirken zunehmend identitätsstiftend, wenn der Westen gegen andere Teile der Welt ins Spiel oder in Stellung gebracht wird. Dass sich jedoch mit dem Bezug auf die universellen Werte partikulare Interessen ihren Weg bahnen können, wurde im Hinblick auf die so genannten „humanitären Interventionen“ häufig diskutiert.

Doch was, fragte mich neulich eine Frau, die merkbar aggressiv auf eine Kopftuchträgerin reagierte, was soll falsch daran sein, das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau zu verdammen und Emanzipation zu verlangen? Nie zuvor, so scheint es, gab es so viele Kämpfer für die Rechte der Frauen. Doch, um mit einem Bonmot Karl Marx’ zu antworten, „wir müssen uns selbst emancipieren, ehe wir andere emancipieren können“.

Die Aggressivität, mit der gegenwärtig Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit eingefordert werden, sofern der Adressat muslimisch ist, grenzt bei einigen schon an Selbstverleugnung, ganz abgesehen davon, dass die Verbreitung von Unwahrheiten und Aufstachelung zu Hass nichts mit Meinungsfreiheit zu tun haben und andererseits die Einschränkung von Bürgerrechten zugunsten eines Sicherheitswahns oft hingenommen wird.

Die Frage, welche Werte für wen wann, wo und wie bestimmend sein sollten, birgt Konfliktpotenzial. Die oberflächliche und ressentimentgeprägte Diskussion auf eine solide kulturhistorische Basis zu stellen, ist das Anliegen des 1939 in Sofia geborenen französischen Philosophen und Linguisten Tzvetan Todorov, der bis zum Jahre 2005 Forschungsdirektor am renomierten Pariser Centre national de la recherche scientifique war.

„Die Angst vor den Barbaren“ heißt sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch, das in Frankreich bereits 2008 herauskam und im Untertitel die Frontstellung zu dem damals bereits zehn Jahre alten ärgerlichen Buch „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington ankündigt. 1955 formulierte Theodor W. Adorno im Aufsatz „Schuld und Abwehr“ das „vornehme Wort Kultur“ trete an die Stelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibe aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch. Ganz so formuliert Todorov das nicht, er ist von der Notwendigkeit überzeugt, von Kulturen sprechen zu müssen, aber er macht deutlich, dass sein Buch gegen einen solchen kulturellen Rassismus gerichtet ist, der wie in Huntingtons orientalisierenden Klischees der Grundannahme folgt, jede Kultur habe einen unwandelbaren Kern, ein inneres Wesen. Den Mythos, wir hätten es mit einem Zusammenprall der Kulturen, mit neuen Religionskriegen zu tun, gibt Todorov elegant der Lächerlichkeit Preis: Kriege wurden bisher stets aus politischen, ökonomischen, territorialen Gründen geführt, Konflikte sind sozial oder politisch; selbst die Kreuzzüge seien beileibe nicht nur durch die Befreiung Jerusalems motiviert gewesen; es sind nicht Kulturen und Religionen, die sich bekriegen, sondern politische Gebilde.

Das klingt materialistischer als das Ganze im Ergebnis ist. Um die Konflikte bestimmen zu können, geht es Todorov um die Unterscheidung von Barbarei und Zivilisation, Kultur und kollektiver Identität. Doch dafür bemüht er aufwendige Kategorisierungen, die kaum einen Erkenntnisgewinn bringen und zudem schnell wieder fallengelassen werden, wie die Einteilung der Welt in Länder mit Aufholwillen, in Länder des Ressentiments oder der Angst oder der Unentschiedenheit. Oder, er deutet die Aufstände in den Pariser Banlieues von 2005 aus einer rein identitätspolitischen Perspektive, wenn er eine fehlende „kulturelle Grundausstattung“ und damit einhergehende mangelnde Identitätsausbildung als deren Ursprung erklärt.

Das klingt merkwürdig, relativiert sich aber, wenn man seine Methode genauer betrachtet. Durch Geschichte und Philosophie flanierend, immer orientiert an den großen Aufklärern Rousseau, Hume, Voltaire, Montesquieu, sucht er eine Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, die sich am Begriff der Anerkennung ausrichtet. Barbarei ist, das Menschsein der anderen nicht anzuerkennen, Zivilisation bedeutet ihm, die anderen als andersartig wahrzunehmen und dennoch anzuerkennen, dass sie Menschen sind wie wir.

Das Bedürfnis nach Anerkennung, das wird in Todorovs früheren Büchern klarer, ist konstitutiv für das Subjekt: es ist angewiesen auf die Anerkennung durch andere, Gemeinschaft ist ein Bedürfnis. Das Fremde kann verstanden werden, so es als anders, aber auch gleichwertig anerkannt wird. Der Lacan’sche Begriff Anerkennung bildet bei Todorov das Scharnier zwischen Anthropologie und Psychoanalyse. Die Grundproblematik zwischen dem eigenen und dem anderen, zwischen Identität und Alterität, ist auch Thema des mittlerweile zum Klassiker gewordenen Buches Todorovs „Die Er-

oberung Amerikas“. In dem zeigt er 1982, wie die spanischen Eroberer und ihre Geistlichen versuchten, die fremden Kulturen zu verstehen und welche Auswirkungen dies auf ihre eigene kulturelle Identität hatte.

Kulturelle Identitäten sind immer schon plurikulturell, so Todorov. Die Auffassungen der Europäer von Gut und Böse kommen aus der persischen Tradition, die der Liebe aus der arabischen Poesie, der Mystizismus von den Kelten etc. Das zu leugnen oder eine eurozentristische Perspektive einzunehmen, trage bereits barbarische Züge, ganz zu schweigen von den offensichtlicheren Fällen des Rückfalls in die Barbarei, wie die Folter, die im „Krieg gegen den Terror“ wieder zum legitimen Kriegsmittel geworden zu sein scheint.

Todorov hält an universal gültigen zivilisatorischen Werten ebenso fest wie an der kulturellen Vielfalt. Er ist überzeugt von dem Projekt EU, und so sehr man hier kritische Töne vermisst, so wenig er hier die Abschottungspolitik in den Blick nimmt, so erhellend sind seine Gedanken in Bezug auf die aufgeladene Integrationsdebatte. Niemand von uns, so gibt er zu bedenken, ist jemals vollständig in die Gesellschaft integriert, in der er lebt, und das sei auch gut so.

Der Staat habe es ebenso wenig zu erleichtern wie zu verhindern, dass Menschen sich am liebsten unter ihresgleichen aufhalten. Er schließt mit einem schlichten, aber schönen Gedanken: „Ich möchte nicht, dass ein Ministerium und seine Beamten für mich entscheiden, was ich bin, denke, glaube oder liebe.“

Tzvetan Todorov: „Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen“. Aus dem Französischen von Ilse Utz. Hamburger Edition, Hamburg 2010, 286 Seiten, 22 Euro