Letzte Reserve an die Unis

Es gibt zu wenig Studenten, darum sollen Haupt- und Realschüler an die Unis, sagt „Mister Pisa“ Andreas Schleicher. Er moniert Bastelarbeiten an einem Bildungssystem „aus dem 19. Jahrhundert“

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

Der Koordinator der OECD für Bildungsstudien, Andreas Schleicher, hat Deutschland dazu ermuntert, den Hochschulzugang zu vereinfachen. Das bedeutet: Auch Haupt- und Realschüler sollten die Möglichkeit zum Studium erhalten. Das Potenzial der Gymnasiasten sei zahlenmäßig ausgereizt.

Der Erfinder der internationalen Schülerstudie Pisa berichtete gestern bei der Vorstellung des OECD-Berichts „Bildung auf einen Blick“ in Berlin, dass Deutschland trotz vieler Reformen „im internationalen Vergleich weiter zurückgefallen ist“. Das sei wegen der gravierenden demografischen Veränderungen problematisch. „Die Zeit läuft Deutschland davon“, beschrieb er den schwierigen Wettlauf um Hochgebildete. Zwar stiegen die Studienanfängerzahlen an – gleichzeitig schrumpfe aber der Anteil der Jungen an der Bevölkerung. In Zahlen: Deutschland hat die Quote seiner Hochschüler seit 1995 nur um 8 Prozent steigern können – andere OECD-Staaten um 49 Prozent.

Der Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, Andreas Storm (CDU), sagte, Deutschland müsse bei den Bildungsreformen einen Zwischenspurt einlegen. Zum Beispiel, so Storm, indem man künftig auch Meister studieren lasse – ohne Abitur. Durch dieses neu interpretierte Meisterprivileg ließe sich die Zahl der Studierenden freilich bloß um Promille anheben.

Die Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind für Deutschland erneut ernüchternd. Auch bei den Bildungsinvestitionen holt das drittstärkste Industrieland der Welt seinen Rückstand nicht auf. Die Bildungsausgaben betragen 5,3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Das ist deutlich unter dem OECD-Mittel (5,9 Prozent) und weit hinter Staaten wie Korea oder USA mit 7,5 Prozent. Auch hier ist der Trend interessant – andere Länder spurten davon: Seit 1998 haben die OECD-Staaten im Schnitt ihre Bildungsausgaben um 46 Prozent gesteigert, Deutschland um lahme 14 Prozent.

Warum das alles so dynamisch vorangeht, führte das politisch verantwortliche Personal gestern exemplarisch vor. Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Ute Erdsiek-Rave (SPD), lehnte es beinahe brüsk ab, mehr Geld für die Bildung zu fordern. „Das ist Aufgabe der einzelnen Länder“, sagte sie. Und der Bildungsstaatssekretär informierte detailreich, wie man kleine Betriebe, neue Betriebe und Migrantenbetriebe zu Ausbildungsbetrieben machen kann.

Da wurde es Andreas Schleicher zu bunt beziehungsweise zu kleinteilig. Indien habe die Zahl seiner Akademiker seit 1995 um die Hälfte gesteigert, sagte er, China habe sie gar verdoppelt. „Sie können sich vorstellen, was das bei der Größe dieser Staaten bedeutet.“ Für Deutschland reiche es nicht, an Details eines Bildungssystems herumzuschrauben, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. „Man muss sich fragen, ob man auf die grundlegend neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft reagieren möchte – oder nicht.“