RALPH BOLLMANNMACHT
: Abschied der Hysteriker

Vor sechzehn Jahren fürchteten sich die Geschichtsforscher vor ihrem Berufskollegen Helmut Kohl. Jetzt freuen sie sich auf die Ostdeutsche Angela Merkel, obwohl sie Zeitzeugen sonst gar nicht mögen. Warum?

Als ich den Terminhinweis sah, musste ich sofort an 1994 denken. Es war das letzte Mal, dass sich Deutschlands Historiker richtig stritten. Schlimmer fast als in der Debatte über die Einzigartigkeit des Holocaust acht Jahre zuvor. Der Verbandsvorsitzende, als Konservativer von den sozialliberalen Wortführern der Disziplin ohnehin misstrauisch beäugt, hatte den Bundeskanzler zum Fachkongress eingeladen.

In Leipzig, erstmals auf dem Gebiet der neuen Bundesländer. Umso schlimmer, als der Betreffende selbst Historiker war. Ein reaktionäres Rollback stand folglich zu erwarten. Eine obrigkeitliche Selbstbeweihräucherung, womöglich selbstgefällige Kritik an einem Fach, das die Zeichen der historischen Stunde 1989 nicht erkannt hatte. Kohl ging der Kontroverse schließlich aus dem Weg und sagte ab.

Jetzt haben die Historiker wieder einen deutschen Regierungschef eingeladen. An diesem Dienstag treffen sie sich in Berlin, in der Hauptstadt, in der Nähe zur Macht. Wenige Tage vor dem 3. Oktober, zwanzig Jahre nach dem förmlichen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Alles Motive, die vor sechzehn Jahren die Alarmisten auf den Plan gerufen hätten.

Gegen das Vorhaben, Angela Merkel zur Eröffnung des Historikertags sprechen zu lassen, regt sich kein vernehmlicher Widerstand. Im Gegenteil. So viele Fachkollegen wollen die Kanzlerin hören, dass die Sitzplätze seit Monaten ausgebucht sind. Nicht mal Journalisten dürfen noch in den Saal. Solche Souveränität gegenüber der Mediengesellschaft ist fast schon sympathisch. Wenn die Geschichtswissenschaft mehr Öffentlichkeit nicht gut gebrauchen könnte.

Wieder einmal staunte ich, wie viel sich in den letzten sechzehn Jahren verändert hat. Zwar müht sich Merkel derzeit nach Kräften, die Reihen des eigenen schwarz-gelben Lagers zu schließen. Mit Hilfe von Atomkraftwerken und unterirdischen Bahnhöfen. Den Historikerverband hat sie damit nicht in Unruhe versetzt. Wären die Geschichtsforscher zuletzt in Hessen zusammengekommen, hätten sie auch ein Grußwort Roland Kochs ertragen.

Natürlich ist es auch von Vorteil, dass Merkel keine Historikerin ist. Anders als Kohl erregt sie nicht den Verdacht, sie wolle den Fachleuten ins Handwerk pfuschen. Schlecht ist allerdings, dass sie als Ostdeutsche Geschichte selbst erlebt hat. Wissenschaftler mögen keine Zeitzeugen. Angeblich, weil das menschliche Gedächtnis so viele Schwächen hat und man im SED-Archiv mehr über die DDR erfahren kann als im Pfarrhaus von Templin. In Wahrheit, weil die Historiker um ihre Deutungshoheit fürchten.

Allzu laut sagen würden sie das heute nicht mehr. Auch die Wissenschaft hat sich an die Mediengesellschaft angepasst, nicht nur die Politik. Mit dem Ergebnis, dass sich die Öffentlichkeit für beides kaum noch interessiert. Da wünscht man sich fast schon die Hysteriker zurück.

Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: M. Urbach