Solidarisch für die Freiheit

HILFE Aus dem westukrainischen Lemberg fahren Freiwillige zu den Protesten nach Kiew. Andere spenden Nahrung und Schutzkleidung

Ein bisschen Angst hat Myroslaw schon, es sei schon gefährlich. „Ich will aber, dass wir in Zukunft keine Angst haben müssen“

AUS LEMBERG JURI DURKOT

Auf den ersten Blick herrscht Weihnachtsstimmung in Lwiw, auf Deutsch: Lemberg. Die Stände vom Weihnachtsmarkt vor der Oper sind noch da, die abendliche Beleuchtung und auch der Schnee auf Straßen und Dächern bei minus 10 Grad passt zum Gesamtbild. Ein Wintermärchen eben, könnte ein Tourist denken, der die Hotspots nicht kennt.

In der Altstadt sind es die Barrikaden vor der jüngst vom Volk besetzten Gebietsverwaltung, auf dem Lemberger Maidan, der Platz vor dem Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, und auf dem Prospekt Swobody, der Flaniermeile der Stadt. Es ist kein Zufall, dass diese Hauptstraße übersetzt Boulevard der Freiheit heißt. Hier stehen seit Anfang der Proteste eine Bühne und ein paar Zelte. Auf einem großen Bildschirm werden Bilder aus Kiew live übertragen.

Das Wiener Kaffeehaus hinter dem Schewtschenko-Denkmal ist ein renommiertes Restaurant, das nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit der kulinarischen Köstlichkeiten an die Habsburger Zeit erinnern soll. Es ist erst kurz vor zwölf am Vormittag, doch auch um diese Zeit herrscht hier seit Tagen reges Treiben. Auf einem Zettel im Fenster steht: „Registrierung für Kiew“. Der große Speisesaal sieht wie ein Krisenstab aus. Drei junge Frauen sitzen hinter Laptops an einem Tisch. In der Ecke wird heißer Tee serviert, daneben ein Flipchart. An mehreren Tischen diverse Infoblätter, eine fast volle Spendenurne aus Glas und ein Foto vom getöteten Demonstranten aus Lemberg. Überwiegend junge Männer gehen hier ein und aus. Es ist der Ort, an dem sich Freiwillige für die Fahrt nach Kiew einschreiben können.

Roman, ein etwa 50-jähriger Unternehmer aus Lemberg, hat heute Dienst. Seine Aufgabe ist es, den gesamten Ablauf zu koordinieren. „Jeden Tag fahren etwa 500 Menschen nach Kiew. Wir registrieren sie, organisieren den Transport. Jeder Freiwillige muss einen Beitrag von 100 Hrywnja bezahlen und verpflichtet sich, drei Tage in der Hauptstadt zu bleiben. Er bekommt einen Zettel mit wichtigen Hinweisen und Telefonnummern für den Fall einer Festnahme und ein Ticket für die Rückfahrt. Jeden Tag fahren von hier ab 15 Uhr mehrere Busse nach Kiew“, sagt Roman und geht zum Flipchart. Für den letzten Tag sind hier alle Einnahmen und Ausgaben aufgelistet. Rund 120.000 Hrywnja (etwa 10.000 Euro) Spenden sind eingegangen, knapp 70.000 hat man ausgegeben. Etwas mehr als 500 Leute sind nach Kiew gefahren.

Ein junger Mann setzt sich gerade an einen Tisch und zieht einen 100-Hrywnja-Schein aus der Tasche. „Ich muss nach Kiew, ich kann nicht anders. Wir müssen unsere Demonstranten dort unterstützen“, sagt Myroslaw. Ein bisschen Angst habe er schon, das habe ja wohl jeder, es sei schon gefährlich. „Ich will aber, dass wir in Zukunft keine Angst haben müssen. Dafür müssen wir kämpfen.“ Keiner redet hier über Politik, über die Regierung in Kiew hört man nur zwei Wörter: Junta und Banditen.

Ein paar hundert Meter vom Wiener Kaffeehaus entfernt steht ein zweistöckiges Herrenhaus. Das neobarocke Gebäude in der Kopernikusstraße, einst für eine polnisch-litauische Adelsfamilie gebaut, beherbergt die Lemberger Gesellschaft für Denkmalschutz. Doch heute geht es hier nicht um Denkmalschutz. Das Haus wurde kurzum in einen Sammelpunkt für Lebensmittel- und Kleiderspenden umfunktioniert. Alle paar Minuten fahren hier Pkws vor, aus den Kofferräumen werden Einkaufstüten mit Lebensmitteln ausgeladen. Auch Fußgänger bringen Sachen vorbei: „Ich habe hier Einlegesohlen und warme Socken. Und ein paar Packungen Nudeln“, sagt Maria, eine alte Frau im abgetragenen Mantel und mit Kopftuch, die gerade zu Fuß in den Hof kommt. „Bald bekomme ich die nächste Monatsrente, da bringe ich mehr“, sagt sie fast entschuldigend. Die anderen bringen Skihosen und Jacken, Handschuhe, Mundschutz, Brillen und warme Schuhe. In einem Nebenraum wird alles sortiert und in Säcke gepackt – Socken zu Socken, Pullover zu Pullovern. Darum kümmern sich junge Studentinnen. „Ich würde am liebsten selbst nach Kiew fahren“, sagt Halyna, ein zierliches blondes Mädchen in einem dicken weißen Pullover, „aber meine Eltern lassen mich nicht. Also helfe ich hier, wo ich kann.“

Im großen Festsaal, wo normalerweise Konferenzen stattfinden, ist der Lagerraum. Hier stehen mehrere Kartons in der Ecke. Andrij Saluk, ein Denkmalschützer, nimmt Sachen heraus, die einen schaudern machen: kugelsichere Westen, Helme, Brillen, Beinschutz, Armschutz und sogar eine Gasmaske. „Die Polizei wirft Lärmgranaten auf die Demonstranten. Eigentlich sind die harmlos, aber sie befestigen Steine und kleine Metallstücke mit Tesafilm an die Granaten. So wurden Demonstranten in der Vergangenheit oft am Bein verletzt. Deswegen brauchen sie Beinschutz“, erklärt ein junger Helfer. Alles scheint bestens organisiert, bald kommt ein VW Transporter, wird schnell beladen und verschwindet nach einer halben Stunde in Richtung Kiew. Lemberg ist fest entschlossen, weiter für Freiheit zu kämpfen. Als Bestätigung dafür hängt am Rathaus über dem Eingang ein großes Banner: „Freie Stadt für freie Menschen“.