Fußball ist nur ein Spiel, aber digitalisiert

VORRUNDE Ist Fußball bloß ein Zahlenspiel? Wie sich der bisherige Verlauf der Weltmeisterschaft in Statistiken liest

VON THOMAS WINKLER

Es war einmal, da wurden Minuten gezählt. Spielminuten. Wie lange hatte ein Stürmer nicht mehr getroffen? Wie lange ein Torwart seinen Kasten sauber gehalten? Solche Zahlen liefert auch diese Weltmeisterschaft: Algerien wartet nun schon 418 Minuten auf einen Torerfolg bei einem WM-Endturnier. Diese Minuten überspannen nahezu ein Vierteljahrhundert: Am 3. Juni 1986 traf Djamel Zidane in der 59. Minute gegen Nordirland zum letzten Mal. Ob die Algerier bei der nächsten WM die Chance haben werden, diese unrühmliche Serie zu beenden, oder noch einmal 24 Jahre warten müssen, das bleibt abzuwarten.

Doch Minutenzählerei, das ist graue Vorzeit. Der moderne Fußball wird längst wird auch in immer avancierteren Statistiken aufbereitet. Lassen sich Laufwege akkumulieren und gewonnene Zweikämpfe vergleichen, Passgenauigkeit in Prozenten ausdrücken und die sich wiederum auf kurze, mittlere und lange Pässe verteilen. Von wo aus wird mit welcher Erfolgsquote geschossen? Wie viele Flanken erreichen den Mitspieler? Wie viele Tacklings enden mit einem Ballgewinn? Wie viele Angriffe laufen über links? Welche Quote hat der Verteidiger XY bei seinen Klärungsversuchen?

Hier wird eine Entwicklung nachgeholt, die in US-Sportarten schon seit Jahrzehnten immer wichtiger wird. Im Baseball, Football oder Basketball werden Statistiken immer avancierter. Da braucht man einen Mathematikabschluss, um die Formel zu verstehen, nach denen die Effektivität eines Quarterbacks oder Pitchers errechnet wird.

Doch diese Sportarten sind vergleichsweise statisch. Sie in Zahlen zu übersetzen, das macht Sinn. Fußball aber ist ein viel anarchischeres Spiel. Fußball besteht aus Fehlern, die Aufgabe der Trainer ist es vor allem, die Fehlerquote möglichst gering zu halten. Und nicht zuletzt: Fußball, das ist vielleicht das wichtigste seiner Erfolgsgeheimnisse, hat viel mit Glück zu tun. Eine Mannschaft kann nur 25 Prozent Ballbesitz haben und nur einmal vors gegnerische Tor kommen, aber trotzdem 1:0 gewinnen.

Aber auch im Fußball lässt sich allerhand mit Zahlen erklären. Beispielsweise, dass sich momentan wieder der Ballbesitzfußball mit dem Vorbild FC Barcelona durchsetzt, stützen auch die Pass-Statistiken: Die meisten Pässe in der WM-Vorrunde haben Brasilien, Spanien und Argentinien gespielt, gefolgt von Deutschland, das unter Joachim Löw ebenfalls diesen Stil anstrebt. Unter den zehn Spielern mit den besten Passquoten, die alle drei Vorrunden-Matches bestritten haben, finden sich vier Brasilianer, darunter die beiden Spitzenreiter Lucio und Felipe Melo (beide 91 Prozent) und zwei Argentinier.

In dieser Top Ten taucht überraschenderweise nur ein Spanier auf. Und das ist keiner der Ballverteiler aus dem Mittelfeld, kein Xavi oder Iniesta, sondern der Verteidiger Puyol. Xavi hat zwar mit 263 die meisten Pässe aller WM-Teilnehmer in der Vorrunde gespielt, aber nur 78 Prozent davon erreichten auch den Mitspieler. Eine Zahl, die den Eindruck stützt, dass die spanische Ballzirkulation lange nicht so rund läuft, wie man erwartet hätte.

Aber für jede Zahl, die eine These stützt, lässt sich im Zweifel auch eine andere Zahl finden, die die Gegenthese untermauert. Gilt doch auch im Fußball natürlich das alte Diktum der Stochastiker: Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.