Stimmungsmacher der Hartz-Republik

Jörges’ Tenor: Hartz IV macht reich. Ein infamer Vorwurf, doch jeder versteht ihn Wie will die Politik das größte Problem der Gesellschaft lösen, wenn sie sich zynisch verhält?

VON JENS KÖNIG

Dies ist eine kleine Geschichte über große Populisten. Eine Geschichte, die erzählt, wie Spitzenpolitiker Stimmung machen und sich dabei auf die Zuarbeit meinungsstarker, aber faktenschwacher Großjournalisten stützen können. Die Geschichte ist nur ein Beispiel, nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Am Mittwoch, den 24. Mai 2006, erscheint im Stern eine Kolumne von Hans-Ulrich Jörges. Überschrift: „Der Kommunismus siegt“. Jörges schreibt über Marx – und über Hartz. Was in der Kombination auf den ersten Blick etwas abenteuerlich anmutet, passt dann doch zusammen. Der Autor unterwirft Marx und Hartz einfach seiner eigenen Logik. Hartz IV bedeute die Verwirklichung des alten Traumes von Karl Marx, schreibt Jörges: die Befreiung von Arbeit und die Alimentierung der Bedürfnisse. Hartz IV verhöhne Arbeit und belohne Nichtstun. Fazit: „Der scheinbar brutalste Abbau staatlicher Stütze in der deutschen Sozialgeschichte entpuppte sich als ihr komfortabelster Ausbau.“

Hartz IV und Komfort? Darauf muss man erst einmal kommen.

Für Jörges kein Problem. Dazu muss man all jenen, die nicht in der Berliner Republik wohnen, erklären, dass der Stern-Journalist eine große Nummer ist. Jedenfalls in der überschaubaren Welt der Wichtigwichtig, der Hauptstadtpolitiker und Hauptstadtjournalisten. Hier hat sich Jörges den Ruf zugelegt, einer der Journalisten zu sein, die von den Politikern am meisten gehasst werden.

Seine wöchentlichen Kolumnen sind messerscharf und intelligent. Sie funktionieren nach einem trivialen Prinzip: Nur eine Meinung zählt, und das ist die von Jörges. Die kann auch schon mal schnelle Haken schlagen. Am 14. Oktober 2004 schrieb Jörges noch eine Geschichte über einen Bundeswehroffizier und Betriebsleiter, der entlassen worden war, sich 200-mal vergeblich um einen neuen Job beworben hatte und als Hartz-IV-Empfänger einen Ein-Euro-Job als Reinigungskraft zugewiesen bekam. In der Kolumne unter dem Titel „Verharzte Seelen“ wimmelte es nur so vor „Respekt“ und „Würde“ und dem „Schmerz der Demütigung“.

Fakten? Hat Jörges in seiner jüngsten Kolumne parat, jedenfalls das, was er für Fakten hält. Eine Familie mit zwei Kindern, die von Hartz IV lebt, bringe es „unter günstigsten Umständen“ auf fast 2.000 Euro im Monat. Das entspreche „einem Stundenlohn von gut 12 Euro brutto“ – „ohne Arbeit“, wie der Autor nicht vergisst hinzuzufügen. „Das ist deutlich mehr als ein Bauarbeiter in der Stunde verdient. Unter Schweiß.“ Jörges spricht von einem „ausgewucherten System der Zusatzleistungen“, das das „täuschend schäbige Arbeitslosengeld II“ von monatlich 345 Euro offenbar ganz attraktiv macht. Eine „wahre Honigroute zum Kommunismus“ eröffne geradezu die Möglichkeit für Niedriglohnjobber, ihr niedriges Arbeitsaufkommen mit Arbeitslosengeld II aufzustocken, falls es unter der „vielfach gepolsterten Stütze“ liegt.

Auch wenn Jörges es so nicht schreibt, der Tenor seiner Kolumne ist klar: Hartz IV macht reich und bequem. Deswegen würden die Bedürftigen heute auch „fantasievoll“ erkunden, „wie ein Platz an den Fleischtöpfen des Sozialstaats erobert werden kann“.

Die pauschalen Vorwürfe von Jörges sind infam, dafür haben sie einen großen Vorteil: Jeder versteht sie. Sogar Sabine Christiansen. Vier Tage nach dem Erscheinen der Stern-Kolumne präsentiert sie ihre aktuelle Talkshow. Das Thema: „Arm durch Arbeit, reich durch Hartz IV?“ Auf ihrer Internetseite wird die Sendung mit den Worten angekündigt: „Es klingt grotesk: Arbeitslose können unter günstigsten Umständen auf einen Stundenlohn von rund 12 Euro brutto kommen und damit deutlich mehr ‚verdienen‘ als manche Friseurin oder Leute am Bau.“

Zur Belohnung dafür, dass Jörges ihr jedes einzelne Stichwort geliefert hat, lädt Christiansen ihn in ihre Sendung ein. Dort sitzt er neben dem früheren Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der Hartz IV gern als die „Mutter aller Reformen“ feiert. Jörges darf die wichtigsten, nun ja, Gedanken seiner Kolumne noch einmal formulieren. Das tut er nicht ohne den pflichtgemäßen Hinweis, man könne durch Hartz IV „nicht reich werden, das ist ganz klar“. Wie hieß gleich noch der Titel seiner Kolumne?

Bei Christiansen läuft so etwas unter kritischem Journalismus. Politiker sind dankbar für solche Stimmungsverstärker. Der Stern hat eine Reichweite von über sieben Millionen Lesern, Christiansen fünf bis sechs Millionen Zuschauer. So viele Menschen erreicht die CDU nicht einmal mit zehn Sonderparteitagen zum Thema Hartz IV, auf denen sie Positionspapiere abstimmen lassen würde, die niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Ihr Mantra, Hartz IV sei vor allem Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch, und deshalb müsse der Druck auf die Arbeitslosen erhöht werden, wird durch Journalisten, die mit steilen Thesen in Talkshows Politik machen, frei Haus geliefert.

Es wäre Jörges’ journalistische Pflicht gewesen, Wolfgang Clement in der Christiansen-Sendung zu fragen, auf welche Expertisen er seine Behauptung stütze, bei Hartz IV gebe es eine Missbrauchsquote von 20 bis 25 Prozent. Als Clement noch Minister war, ließ er im August 2005 einen „wissenschaftlichen“ Report erstellen, in dem behauptet wurde, ein Heer von Abzockern würde mit krimineller Energie den Sozialstaat ausnehmen. Ein halbes Jahr später musste die große Koalition einräumen, dass sie keinerlei objektive Erkenntnisse über den behaupteten Missbrauch besitze. Am Montag dieser Woche hat das Bundesarbeitsministerium diese Aussage auf Anfrage der taz bestätigt.

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist nicht zu rechtfertigen, dass die Hartz-Regelungen von tausenden von Betroffenen ausgenutzt werden. Aber es ist kein Massenphänomen, das einen Großalarm rechtfertigt. Nach empirischen Befunden beträgt die Quote des Missbrauchs bei Sozialleistungen seit Jahren konstant zwei bis drei Prozent.

Wie will die Politik das größte Problem unserer Gesellschaft, die dauerhafte Deklassierung von Millionen von Menschen, lösen, wenn sie sich ihnen gegenüber zynisch verhält? Wie können gut verdienende Journalisten dieses Problem angemessen schildern, wenn sie sich von der Lebenswelt der Betroffenen derart abschotten?

Eine vierköpfige Familie mit Kindern im Alter von 6 und 12 Jahren, die, sagen wir, in Rostock lebt, erhält im Durchschnitt rund 1.400 Euro monatliche Unterstützung: bei beiden Erwachsenen je 298 Euro Arbeitslosengeld II (90 Prozent des Ost-Regelsatzes), die beiden Kinder je 199 Euro Sozialgeld, dazu etwa 400 Euro Mietzuschuss. Kindergeld erhält diese Familie nicht, das gilt als „Einkommen“ und wird ihnen auf ihr Arbeitslosengeld angerechnet. Das „ausgewucherte System von Zusatzleistungen“, von dem Jörges spricht, existiert nicht. Fast alle Einmalleistungen für Hartz-IV-Empfänger sind gestrichen worden: Sie erhalten sie nur noch im Falle von mehrtägigen Klassenfahrten der Kinder und für Babykleidung. Sieht so der Sieg des Kommunismus aus?

Hans-Ulrich Jörges hat auf die Frage der taz, wie er auf 2.000 Euro im Monat für eine vierköpfige Familie komme, per E-Mail geantwortet: Unter den günstigsten Bedingungen sei das dann möglich, wenn die beiden Erwachsenen aus dem Arbeitslosengeld I mit dem dafür gewährten Übergangsgeld ins Arbeitslosengeld II wechseln und neben dem Regelsatz „alle denkbaren Leistungen“ erhalten, also „Kosten für Unterkunft etc.“. Mal abgesehen davon, dass die meisten Langzeitarbeitslosen kein Übergangsgeld erhalten, weil sie bereits länger als zwei oder drei Jahre arbeitslos sind, mal abgesehen davon, dass es neben den Mietkosten so gut wie keine Zusatzleistungen gibt – für den Fall, den Jörges meint, kämen für die Familie in Rostock im Monat noch einmal rund 100 Euro Übergangsgeld pro Erwachsener hinzu: Macht also insgesamt höchstens 1.600 Euro. Nimmt man jetzt eine Familie im Westen und einen höheren Mietzuschuss zur Grundlage, kommt man vielleicht auf maximal 1.800 Euro im Monat.

Wer von Hartz IV lebt, muss mit jedem Cent rechnen. Ist es nur ungenau oder schon unredlich, wenn Jörges einen Ausnahmefall konstruiert und von „fast 2.000 Euro“ spricht?

Ist es eine lässliche Sünde oder böse Absicht, 2.000 Euro für eine ganze Familie auf einen Stundenlohn von 12 Euro brutto für einen einzigen Arbeitnehmer herunterzurechnen? Was, wenn der Mann und die Frau arbeiten würden und zusammen knapp 2.000 Euro verdienten? Das machte einen Stundenlohn von 6 Euro die Stunde. Da sieht die Welt schon ganz anders aus.

Sicher, über alles lässt sich streiten. Aber eine Erfahrung sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten: Aus der Perspektive von oben verschwimmen ganz schnell die feinen Unterschiede, die für viele arme Menschen im Alltag existenziell sind.