Meine WG ist meine Familie

JUNGE UTOPIEN (III) Sex- und Liebesbeziehungen sind heute so vielfältig wie nie. Der Staat muss seine Gesetze an diese Vielfalt der Lebensstile anpassen

■ 31, ist Redakteurin im Online-Ressort der taz. Sie ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und wurde im Dezember 2006 in deren Parteirat gewählt, dem sie zwei Jahre lang angehörte.

Während ich diesen Text schreibe, ist mein Freund bei einer anderen Frau. Das ist nicht unüblich: Studien erzählen davon, dass eine große Zahl von Verpartnerten schon mal Spaß in fremden Betten hatte.

Fremdgehen ist prickelnd. Für den allein zu Hause sitzenden Dritten ist es hingegen nicht so prickelnd, wenn ein Treueversprechen gebrochen wird. Doch monogame, nicht offene Zweierbeziehungen geraten oft in eine Krise und werden oft beendet, wenn ein Partner Lust auf eine andere Person hat – oder, nachdem es schon passiert ist. Wer sich in einer offenen Beziehung befindet, hat es da meist leichter.

Mit mehreren Menschen gleichzeitig in einer institutionalisierten Liebesbeziehung zu sein, bezeichnet man als Polyamorie. Viele entscheiden sich für diese Beziehungsform, weil sie einen geliebten Partner nicht aufgeben wollten, nur weil er mit einer anderen Person geschlafen hat. Andere tun es aus politischen Gründen: Sie sind besonders liberal oder besonders kritisch gegenüber Besitzverhältnissen und wollen diese auch in Beziehungen abschaffen. Unabhängig von ihrer Motivation verdienen Polyamore Toleranz und Anerkennung. Die Gleichsetzung von Mehrfachbeziehungen mit Promiskuität ist unzutreffend – und manchmal auch diskriminierend.

Liebesbeziehungen oder gar Sex mit politischer Bedeutung aufzuladen ist allerdings ein Irrweg. Nicht alles Private ist politisch! Bei der Liebe ist der Bauch, das Irrationale wichtig – in der Politik sind es Argumente und Fakten. Herrschaftsverhältnisse über das Bett zu ändern, kann nicht funktionieren und macht auch keinen Spaß. Insofern sollte Polyamorie weniger ein politisches Projekt denn vielmehr eine Lebensform sein, die gleichberechtigt neben der monogamen Zweierbeziehung und vielen anderen Lebensformen betrachtet werden muss.

Jenseits der Kleinfamilie

Beziehungen sind heute weitaus vielfältiger als das, was gesetzlich als Normalfall festgelegt ist. Es gibt Alleinerziehende, Geschiedene mit neuen Partnern, Gemeinschaften, Polyamore, Nichtverheiratete – und das alles in homo-, bi- und heterosexuell. In Berlin wachsen mehr als die Hälfte aller Kinder nicht in einer klassischen Kleinfamilie auf. Sie können von einigen familienpolitischen Vergünstigungen nicht profitieren – und das ist ungerecht.

Damit Gerechtigkeit in der Lebensformenpolitik wieder hergestellt wird, müssen einige Gesetze geändert werden. Der Staat muss dem Grundsatz der Familienneutralität gerecht werden. Das meist frauendiskriminierende Ehegattensplitting muss abgeschafft werden. Endlich müssen auch Homosexuelle ein vollwertiges Adoptionsrecht erhalten. Und es muss über die Einführung eines Familienvertrags nachgedacht werden.

Familienvertrag für alle

Die Idee beim Familienvertrag: Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen wollen, unterzeichnen einen Vertrag mit Rechten und Pflichten. Dieser soll bei einer staatlichen Stelle, zum Beispiel beim Jugendamt, geschlossen werden. Mit dem Familienvertrag würden Mehrelternschaften möglich. Das betrifft nicht nur Groß-WGs, die gemeinsam Kinder aufziehen wollen oder Polybeziehungsnetze – auch Neuverpartnerte, Alleinerziehende und Homosexuelle würden von der Einführung eines Familienvertrags profitieren.

Noch aber ist die Idee des Familienvertrags wolkig. Bevor man die bewährte Ehe über Bord wirft, müssen die juristischen und sozialen Folgen dieser Idee überprüft werden. Es könnte ja sein, dass Kinder in Mehrfachbeziehungen zum Spielball von Streitigkeiten der Eltern werden – auch wenn die Forschung nahe legt, dass es gut für die Entwicklung von Kindern ist, wenn sie mehrere Bezugspersonen haben. Drei sind mehr als zwei, und vier mehr als drei – unterschiedliche Bezugspersonen, mit denen die Kinder sprechen können und die den Kindern etwas beibringen können. Mit dem Artikel drei des Grundgesetzes, der Ehe und Familie besonders schützt, wäre eine Abschaffung des Ehegattensplittings und vermutlich auch der Familienvertrag durchaus vereinbar.

Ein Familienvertrag ist zeitgemäß in einer Gesellschaft, die vielfältiger wird, mobiler und flexibler. Manche postulieren den Wandel von der Kleinfamilie zum Freundesschwarm. Der Freundesschwarm lässt sich mit Internetdiensten, die zeigen, wer sich gerade an welchem Ort befindet, organisieren. Der Wandel vom Bipolaren zum Vernetzten passt in die Zeit.

Dating für jeden Geschmack

Es ist rational schwer zu erklären, warum Liebe, Sex und Beziehungen nur auf einen Partner beschränkt sein sollen

Weltweite Kommunikation macht heute neue Beziehungsformen möglich. In einer globalisierten Arbeitswelt gibt es immer mehr Fernbeziehungen. Manchmal sind die Partner wochen- oder monatelang voneinander getrennt. Über Chat oder Internettelefon ist es trotzdem problemlos möglich, eine intensivere Beziehung zu führen als das durchschnittliche deutsche Ehepaar, das gerade mal acht Minuten am Tag miteinander kommuniziert.

Das Netz bietet auch mannigfaltige Möglichkeiten für diejenigen, die ihren Trieb anderswo ausleben wollen als in einer festen Liebesbeziehung – in letzter Zeit wird dies gern unter dem Modebegriff Casual Sex subsumiert. Unterschiedlichste Datingbörsen bieten für jeden Geschmack etwas. Mittlerweile ist es auch für Frauen keine Peinlichkeit mehr, sich in einer solchen herumzutreiben. Dabei zeigt sich, dass sich im Netz die Partnerwahlmuster aus der Offlinewelt reproduzieren: Gleich und Gleich gesellt sich gern, Frauen schlafen fast immer nach oben – meist klicken Akademikerinnen etwa Männer ohne Studium unerbittlich weg.

Sicherlich wird es irgendwann auch möglich sein, körperlichen Sex über das Netz zu machen. Doch darum geht es nicht. Es geht um Liebe und Beziehungen – und warum die nur auf einen Partner beschränkt sein und nicht weitergedacht werden sollen, ist rational wenig erklärlich.

Meine WG ist meine Familie, das Internet meine Heimat. Ich liebe mehr Menschen als nur meinen Freund. Und der hat sich inzwischen auch wieder gemeldet. JULIA SEELIGER