Prinzessinnen und Prinzen

Schreiben kann Patienten Kraft geben, neue Perspektiven eröffnen und ihren Heilungsprozess fördern. In Deutschland ist die Poesietherapie bislang wenig verbreitet. Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe praktiziert sie bereits seit einigen Jahren

VON JULIA JOHANNSEN

Station 15, Abteilung für Psychosomatik im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Sechs Frauen und drei Männer sitzen vor einem leeren Blatt Papier. Sie stellen sich vor, sie wären eine Märchenfigur. Eine Prinzessin, ein König, ein Narr. Sie wählen. Sie schreiben. Es war einmal …

„Die Poesietherapie ist eines der ältesten Heilmittel, die es gibt. Wir entdecken es gerade wieder“, sagt Ingeborg Woitsch, die poesietherapeutisch in der Abteilung für Psychosomatik arbeitet. In Havelhöhe wird großer Wert auf die aktive Mitwirkung des Patienten an seinem Gesundungsprozess und die Unterstützung seiner Selbstheilungskräfte gelegt. Der anthroposophische Ansatz zeigt sich auch in der Poesietherapie: „Die Sprache ist Ausdruck des Ich, und im Ich des Menschen liegt sein inneres Wissen“, sagt Woitsch. „Das heißt, wir gewinnen über Sprache und Schreiben eine Berührung mit diesem Ich und damit mit unserem inneren Wissen.“ Während es in der Poesietherapie ums Schreiben geht, arbeitet die Bibliotherapie mit dem Lesen von Texten. Beide sind jedoch in der Praxis nicht voneinander zu trennen und wichtige Aspekte der therapeutischen Arbeit. Aus diesem Grund findet die Therapie oft in Gruppenarbeit statt. „Das eigentlich Heilsame hat viel mit sozialen Prozessen zu tun“, sagt Woitsch. „Schreiben wie Sprache ist Mitteilung und kein einsames Geschäft. Anteil nehmen am Leid des Anderen und das Vorlesen der eigenen Texte sind die Hälfte des therapeutischen Prozesses.“ Patienten mit Depressionen, Angststörungen, Schmerzen, Bulimie oder Krebs finden im Schreiben Unterstützung in ihrem Heilungsprozess. „Eine Patientin mit einer Krebserkrankung hat sich in ihre Heilung sozusagen hineingeschrieben“, erzählt Woitsch. „Geschichten und Märchen über ihre Heilung haben ihr Halt und Kraft gegeben.“

Die Poesietherapie setzt der Fantasie keine Grenzen. Sprachregeln gelten nicht. Nicht-schreiben-Können gibt es nicht. Was zählt, ist das Gefühl. „Die meisten begeistert es sehr, wenn sie entdecken, dass sie schreiben können“, sagt Woitsch. „Das Schreiben ist nicht nur Dichtern vorbehalten. Jeder kann es.“ Alltägliches wird in ein Märchen oder ein Gedicht übersetzt. Banale Gefühle verwandeln sich in Bilder und Poesie, Erlebtes wird aufgeschrieben und bekommt damit eine andere Realität. Die verschlüsselte und poetische Sprache bringt Distanz, führt weg vom Intellekt und öffnet die seelische Ebene.

Wer am Anfang keine eigenen Worte findet, bekommt einen Text zum Lesen. „Die Klavierspielerin“ von Jelinek ist eine Lektüre, die Woitsch zur Inspiration empfiehlt. „Viele Leute stehen unglaublich unter Stress, weil sie denken, dass das, was sie zu Papier bringen, druckreif sein muss“, sagt die Poesietherapeutin. „Aber Schreiben ist ein Prozess, das versuche ich immer wieder deutlich zu machen: Schreib alles hin, wie es jetzt ist.“ Das biografische Schreiben, das Woitsch in ihre Arbeit mit einfließen lässt, ist ein Teil der Poesietherapie. Es bedeutet nicht, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Vielmehr werden Aspekte der eigenen Biografie neu betrachtet und kleine Regieanweisungen gegeben, zum Beispiel: Schreib eine Geschichte aus der Perspektive der 20-jährigen Person, die du warst. „Wenn man sein Leben zu einseitig erzählt, dann kann es zu einer seelischen Erkrankung kommen“, sagt Woitsch. Ziel der Poesietherapie ist, vielfältige Erzählformen für das Leben und die eigene Biografie zu finden. „Man braucht nur ein Stück Papier und einen Stift. In jeder Situation des Lebens und zu jeder Zeit kann das Schreiben helfen.“

Im Forschungsprojekt „Lesen und Schreiben in psychischen Krisen“ kam die Universität Münster zu dem Ergebnis, dass Literatur, Schreiben und Lesen in Lebenskrisen eine Überlebenshilfe sein kann. In den USA, wo sich die „Poetry Therapy“ als Form der Kunsttherapie längst etabliert hat, ist die poesietherapeutische Forschung viel weiter fortgeschritten als in Deutschland. Amerikanische Ergebnisse belegen etwa, dass therapeutisches Schreiben chronische Schmerzen lindern kann – insbesondere durch Beschreiben der eigenen Befindlichkeit. Und ein Herzspezialist stellte fest, dass sich durch regelmäßiges Tagebuchschreiben der körperliche Zustand von Probanden nachhaltig verbesserte.

Ob Tagebuchschreiben, Morgenseitenschreiben oder automatisches Schreiben, das Surrealisten 1924 ins Leben riefen: Schreiben hat einen befreienden, klärenden und reflektierenden Effekt. „Jeder Schreibprozess liest die Gedanken. Es ist ein Irrglaube, dass man beim Schreiben das Sprachliche abbildet“, erklärt Claus Mischon, Dozent am Institut für Kreatives Schreiben Berlin. „Beim Schreiben wird etwas Bildhaftes und Vorbewusstes auf das Lineare gebracht.“

Sechs Frauen und drei Männer haben genau das gemacht. Nun sitzen sie vor einem voll geschriebenen Blatt Papier. Sie lächeln, denn heute sind sie Prinzen und Prinzessinnen geworden. „Man kann ein stimmungaufhellendes Medikament geben oder ein Märchen schreiben“, sagt Woitsch. „Der Effekt ist der gleiche.“