SEX UND RELIGION
: Niemand ist frei

Des Hundes wegen kann sie nicht kommen, nicht verreisen, des Rheumas wegen nicht in kalte Läden

Das Problem an den sexuellen Fantasien sind die Anderen. Also diejenigen, die keine haben oder nicht zulassen wollen. Oder ihre Fantasien einbetten in ganz andere Wunschszenarien, die mit Liebe und Bindung zu tun haben, dachte ich an diesem leeren Sonntagnachmittag auf meinem Bett bei offenen Fenstern. Alles hat seinen Preis. Gilt auch für die Liebe.

Ein anderes Problem sind die, die den Fantasien nicht entsprechen können oder wollen. Mit einem dieser Fälle hatte ich noch eben telefoniert. Eine Frau, die seit Monaten mit einem dicken Knie herumläuft. Eine, die ungünstig geboren wurde, falsch fiel, vom Hund unglücklich gezogen wurde, künstliche Ernährung ist Teil der Therapie. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, sie wollte nicht. Hund mit Krebs, Balkon mit Grünzeug, in ihrer Freizeit strengt sie Prozesse gegen ihre Auftraggeber an, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, letzte Ausfahrt Justiz. Redet am Telefon ohne Unterlass. Streut man einen Witz ein, der sie auf die Schippe nimmt, hängt sie sofort ein. Ihr Hund dient ihr dazu als Ausrede. Eine Ausrede auf vier Beinen. Ein Mischling. Des Hundes wegen kann sie nicht kommen, nicht verreisen, des Rheumas wegen nicht in kalte Läden, der Misanthropie wegen nicht in die U-Bahn, schon gar nicht in die Richtung Neukölln, sie kann auch nicht mehr in diese Raucherbars, weil sie da keine Luft bekommt. Ein Leben voller Hindernisse. Niemand ist frei. Ich auch nicht.

Ich greife liegend zum Buch, lese ohne Verständnis ein paar Seiten, schalte dann das Radio ein. Im gesellschaftlichen Diskurs ist ja jetzt sogar von einem religiösen Backlash die Rede, und ja, ich spüre ihn auch, ich kann nämlich kein Wort mehr verstehen, denn das Drei-Uhr-Gebimmel der Kirche nebenan dröhnt so dermaßen laut durch mein Fenster, dass ich nicht mehr folgen kann. Ach, es ist ein Kreuz. RENÉ HAMANN