Versöhnung – nicht Sühne

Sie holte die Polizei, weil ihr Bruder mit dem Messer drohte. Ein versuchter Ehrenmord oder eine Familientragödie mit Happy End?

Ob er sich von seiner Schwester verabschieden dürfe? Er darf. Nach Kuss und Umarmung geht er weiter, dieser Prozess gewordene Familienkrach

AUS KÖLN HOLGER MÖHLMANN

Die Verhandlungspause ist noch nicht zu Ende, als die wichtigste Zeugin den Gerichtssaal betritt. Auf der Anklagebank sitzt ihr Bruder, der sie angeblich hat umbringen wollen. Sie sieht ihn und bricht in Tränen aus. Auch er fängt sofort an zu weinen und geht auf seine Schwester zu. Minutenlang liegen sich Täter und Opfer schluchzend in den Armen – gerührt, verwirrt und aufgewühlt. Schließlich beendet die Staatsanwältin die familiäre Eintracht. Bruder und Schwester nehmen ihre Plätze ein, kurz danach erscheinen die Richter. Sieht so ein Prozess wegen versuchten Mordes aus?

Ein Wort geht um in Deutschland, und es heißt „Ehrenmord“. Mit ihm verbinden sich Vorstellungen von archaischen Lebenswelten, grausamen Sitten und einer Männerehre, die mit den Frauen steht und fällt. Schützen die Frauen die Ehre nicht, so müssen sie büßen – zur Not mit dem Leben. Doch was genau spielt sich ab, wenn ein Fall von Gewalt und Ehre vor ein deutsches Gericht kommt?

In der vergangenen Woche musste sich am Kölner Landgericht ein zweiunddreißigjähriger Iraner wegen versuchten Mordes an seiner Schwester verantworten. Weil er durch Zufall erfahren hatte, dass sie als Prostituierte arbeitet, bedrohte der Angeklagte seine Schwester und stach mit dem Messer auf die Badezimmertür ein, hinter der sie sich verschanzt hatte. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft hätte er sie auch umgebracht, doch herbeigerufene Polizeibeamte konnten ihn überwältigen.

Für so einen Fall ist die große Strafkammer zuständig – drei Richter und zwei Schöffen. Doch auch der Angeklagte nimmt die Sache ernst: Nicht einer, sondern zwei Anwälte erwarten ihn, als er in Begleitung eines Polizisten den Saal betritt. Freundlich lächelnd begrüßt er seine Rechtsbeistände: ein schlanker junger Mann im schwarzen Anzug und offenen Hemd, das leicht gelockte Haar sorgsam frisiert. Das halbe Jahr U-Haft sieht man ihm nicht an. Er wirkt beherrscht, ein wenig schüchtern. Sein Prozess ist öffentlich, doch viel Öffentlichkeit ist nicht erschienen: eine Hand voll Pressevertreter und ein paar routinierte Prozesshopper, die während der Verhandlung wie verspätete Theaterbesucher in den Saal huschen, eine Viertelstunde zuhören und dann weiterziehen nach nebenan zu Einbruchdiebstahl oder fahrlässiger Tötung.

In ihrer Anklageschrift attestiert die Staatsanwältin dem Angeklagten ein „übersteigertes Ehrgefühl“ und berichtet vom Tattag im Sommer letzten Jahres. In Anwesenheit mehrerer Polizeibeamter habe er wiederholt gedroht, die Schwester umzubringen, habe Möbel demoliert, mit einer Bierflasche geworfen und schließlich auf die Tür eingestochen. Eine Polizistin habe das Opfer durch das Badezimmerfenster der Parterrewohnung befreien müssen.

Sein Mandant wolle hierzu nicht mehr Stellung nehmen, sagt einer der Anwälte. Die im Vorfeld gemachten Aussagen behielten jedoch ihre Gültigkeit. Ob der Angeklagte später, in Anwesenheit seiner Schwester, eine Erklärung verlesen dürfe? Er darf. Doch zunächst will sich das Gericht ein Bild von ihm machen, und zwar ausgiebig. Mehr als eine Stunde lang erzählt der Angeklagte, meist sehr leise, aus seinem Leben. Von der schwierigen Kindheit in Teheran. Von der Trennung der Eltern. Vom psychisch labilen Vater, der seine sechs Kinder häufig schlug. Der Angeklagte beginnt zu schluchzen. Mit zitternder Stimme berichtet er von überwundenen Selbstmordphantasien, der zweijährigen Militärzeit und der Ausreise nach Deutschland vor fast zehn Jahren. Letztere dauerte mehrere Monate und führte durch verschiedene südostasiatische Staaten, mit Hilfe eines Schleusers.

Er geht nach Köln, wo seine Schwester lebt, um „auf sie aufzupassen“. Angeblich wird sie von ihrem Mann misshandelt. Wie ein Psychotherapeut fragt der Vorsitzende nach den Gefühlen von damals und nach dem heutigen Verhältnis zu den Geschwistern. Fast wird es gemütlich im Saal. Der Asylantrag wird zwar abgelehnt, doch die Heirat mit einer Türkin ermöglicht dem Angeklagten den Aufenthalt in Deutschland. War es denn Liebe, fragt der Richter. Ja, aber die Frau habe sich in seiner Familie nicht wohl gefühlt, sei eifersüchtig gewesen auf die Geschwister. Die Abtreibung des gemeinsamen Kindes habe sie dem werdenden Vater per SMS mitgeteilt. Es kommt zur Scheidung. Und nicht nur dazu: Herzprobleme stellen sich ein wegen „zu viel Stress“. Doch er habe, betont der Angeklagte, „niemals aufgegeben“. Habe gejobbt, in Eigenregie Deutsch gelernt und sich einen Ausbildungsplatz besorgt. Jetzt in der Haft nehme er am Schulunterricht teil. Nein, viele Freunde habe er wohl nicht und auch kaum Kontakt zu Deutschen. Er sei ein Familienmensch. Glaubt er an Gott? Ja, aber besonders religiös sei er nicht. Und bis jetzt auch nicht vorbestraft, stellt der Richter fest.

Nach kurzer Beratung mit seinen Anwälten ist der Angeklagte doch bereit, seine im letzten Sommer gemachte Aussage zum Tathergang nochmals verlesen zu lassen. Von einem Kollegen hört er von einer „persischen Nutte“, die da und da wohne, eine hübsche Tochter habe sie auch. Der Angeklagte zieht seine Schlüsse und stellt gemeinsam mit dem älteren Bruder die Schwester zur Rede. Bisher dachte er, sie arbeite als Altenpflegerin. Die Schwester gibt zu, dass sie als Prostituierte arbeitet. Es folgt ein Krach, in dessen Verlauf der Angeklagte droht: „Wenn du so weitermachst, bringe ich dich um.“ Schließlich ziehen die beiden Männer ab, nicht ohne ihrer Schwester mitzuteilen: „Ab jetzt hast du keine Brüder mehr.“

Am nächsten Tag habe seine Schwester ihn ständig angerufen, ihn beschimpft und provoziert, sagt der Angeklagte. Er packt zwei Messer ein, fährt zu ihr, will ihr „Angst machen“. Doch sie scheint nicht zu Hause zu sein, er setzt sich in den Hof und wartet. Doch die Schwester ist sehr wohl zu Hause und hat schon die Polizei gerufen. Als diese eintrifft, um den angekündigten „Randalierer“ zu stellen, fühlt sich der Angeklagte „in eine Falle gelockt“. Aus dem Haus dringen Hilfeschreie, der Angeklagte zückt das Messer, an den Rest erinnert er sich nur vage.

Die drei Polizeibeamten schildern ihre Begegnung mit dem Angeklagten als ernst zu nehmende Sache. „Ich stech‘ sie ab“, habe er geschrien und „Erschießt mich oder ich bringe sie um!“ Gewaltsam sei er in die Wohnung eingedrungen, er habe „keine Wahl“ und müsse das jetzt „zu Ende bringen“. Die Beamten berichten von den Stichen gegen die Badezimmertür und vom Vandalismus am Mobiliar. Zwischenzeitlich sei sie kurz davor gewesen ihn zu erschießen, sagt eine Beamtin, so ernsthaft sei die Bedrohung gewesen.

Der Auftritt des Opfers gibt dem Prozess eine unerwartete Wendung. Wer bis dahin die großen Gefühle aus den Gerichtsshows der Privatsender vermisste, kommt nun auf seine Kosten. Am ganzen Leib zitternd macht die Schwester vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und möchte auch nicht, dass frühere Aussagen verwertet werden. Durch einen Dolmetscher lässt sie erklären, sie liebe ihren Bruder über alles, habe alles nur aus Wut gesagt und ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn belastet habe. Sie wisse, dass er sich für sie „geopfert“ und keine seiner Drohungen ernst gemeint habe. Ihr Bruder, ebenfalls zitternd und schluchzend, antwortet mit der vorbereiteten Erklärung: Er habe ihr nicht weh tun wollen, sondern sich nur Sorgen um die minderjährige Tochter gemacht. Er liebe seine Schwester und sehe ein, dass Gewalt der falsche Weg war, es ihr zu zeigen. Er bitte sie um Verzeihung und wünsche ihr alles Gute. Ob er sich von seiner Schwester verabschieden dürfe?

Er darf. Nach Kuss und Umarmung geht er weiter, dieser Prozess gewordene Familienkrach um Ehre, Messerstiche und Versöhnung. Doch seine Höhepunkt hat er hinter sich. Inzwischen gibt es auch ein Urteil: zwei Jahre und zehn Monate unter Anrechnung der U-Haft. Ob im offenen oder geschlossenen Strafvollzug, wird noch entschieden.