Die Stadt der fehlenden Puzzleteile

MOBILITÄT Im internationalen Vergleich schneidet Berlin bei der Barrierefreiheit gut ab. In der Realität zeigt sich dagegen schnell, dass es oft noch hakt – und behinderte Menschen in ihrem Alltag eingeschränkt werden. Auf Tour mit zwei Elektrorollis

■ S-Bahn: Von 166 S-Bahnhöfen in der Region sind derzeit 148 stufenfrei erreichbar, 119 über Aufzüge und 29 über Rampen; 141 verfügen über ein Blindenleitsystem. Bis 2017 sollen weitere 15 Bahnhöfe stufenfrei erschlossen werden.

■ BVG: 53 Prozent der Straßenbahnen und 98 von 173 U-Bahnhöfen sind barrierefrei. Alle Busse sind mit Rampe befahrbar, das automatische Absenken an jeder Haltestelle soll aber abgeschafft werden. Im Jahr 2020 soll die gesamte BVG barrierefrei sein.

■ Schulen: Von 961 Berliner Schulgebäuden sind laut Bildungsverwaltung 279 barrierefrei, weitere 133 zugänglich für Rollstuhlfahrer.

■ Wahllokale: Bei den BVV- und Abgeordnetenhauswahlen 2011 waren rund ein Drittel der Wahllokale nicht barrierefrei. Wie viele es bei der Bundestagswahl in zwei Monaten sein werden, ist noch nicht bekannt.

VON MANUELA HEIM

Vier Menschen, die sich mit Barrieren auskennen, treffen sich am Frankfurter Tor. Schon ein paar Minuten in der U-Bahn, ein paar Meter auf Berlins Straßen werden viel verraten über eine Welt, in der sich irgendwann jeder eingeschränkt bewegen wird: ob mit Kinderwagen, im Rollstuhl oder im Alter. Die Tour soll gute Orte zeigen, an denen sich Unternehmen Mühe gegeben haben. Doch schon am Treffpunkt wird klar, dass die Stadt für Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, ein Puzzle ist, immer wieder lückenhaft durch fehlende Teile. So wie hier an der Tramstation, wo der Blindenleitstreifen nach ein paar Metern ins Nichts führt.

Zur Gruppe gehört Margarete Meyer, 54. Seit 2009 lebt sie in Berlin, ihr Elektrorolli bringt es auf zehn Stundenkilometer. „Manchmal komme ich mir vor wie eine Zumutung“, wird Meyer später sagen. Auch ihr Lebensgefährte Thomas Schneider sitzt im elektrischen Rollstuhl. Der 50-Jährige lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin. „Beim Bäcker bin ich der Rollstuhlfahrer, der jeden Morgen vier Brötchen kauft“, sagt er zur Anonymität behinderter Berliner. Beruflich setzen sich René Schulze und Thorsten Stellmacher mit den Barrieren der Stadt auseinander. Schulzes Unternehmen Pegasus prüft Einrichtungen auf ihre Barrierefreiheit. Stellmacher ist Projektleiter bei Mobidat, einer Onlinedatenbank zum barrierefreien Leben in Berlin. „Die Stadt zerfällt in erreichbare und nicht erreichbare Bereiche“, sagt er.

Am Frankfurter Tor, dem Startpunkt, hat es sich die BVG einiges kosten lassen, dass Menschen im Rollstuhl, mit Kinderwagen, Rollator oder auch schwerem Gepäck keine Straßen mehr überqueren müssen, wenn sie von der U-Bahn in die Tram umsteigen wollen. Der Fahrstuhl vom Bahnsteig endet seit dem Umbau direkt auf der Mittelinsel mit den Tramstationen.

Die Gruppe macht sich auf in Richtung Andreasstraße. Dort gibt es den einzigen Supermarkt der Stadt, der die aktuellen Bedingungen des Signets „Berlin barrierefrei“ erfüllt. Thomas Schneider fährt selbst, Thorsten Stellmacher auf dem Rad nebenher. „Feste Radwege, Fußwege, Straßen – die normalen Verkehrskonzepte funktionieren doch eigentlich gar nicht mehr“, sagt Stellmacher und schwärmt von der Idee des modernen Multifunktionsraums: breite Gehwege, auf denen sich Radfahrer, Rollifahrer, Fußgänger, Rollatoren- und Kinderwagenschieber in friedlicher Koexistenz üben. Ein bisschen wie am Alex, wo sich die Radspuren aus allen Himmelsrichtungen auf einen unregulierten Platz ergießen und die Tram besonders langsam fährt. „Es ist leider urdeutsch, dass sich jeder auf den Zentimeter genau in seinem ihm zugewiesenen Raum zu bewegen hat“, sagt Stellmacher.

Schneider rollt mit 6 Sachen über die Karl-Marx-Allee, an Geschäften vorbei, die er nie von innen sehen wird. Die eine Stufe bleibt für den schweren Elektrorolli unüberwindbar. Nicht einmal jeder zweite Ladenbesitzer hat eine provisorische Rampe angebracht. „Und das auch mehr für die Lieferanten als für die Rollstuhlfahrer“, glaubt Stellmacher. Der Gehweg wurde erst vor zehn Jahren neu gepflastert. „Ein paar Säcke Sand, und man hätte das ebenerdig gestalten können“, sagt Schneider.

Margarete Meyer fährt vom Frankfurter Tor lieber mit der U-Bahn und rollt geradewegs von der Tramstation in den Fahrstuhl, eine ältere Frau mit Hackenporsche im Schlepptau. Der Fahrstuhl funktioniert – das ist keine Selbstverständlichkeit. „In der Friedrichstraße, einem der wichtigsten Umsteigepunkte der Stadt, konnte monatelang kein Rollstuhlfahrer umsteigen“, erzählt Meyer. Kein Einzelfall. Lieferschwierigkeiten der Ersatzteile sind laut S-Bahn eine Ursache für defekte Fahrstühle, die oft wochenlang diejenigen verhöhnen, die auf sie angewiesen sind. Es stände auch keine Störungsnummern an den Fahrstühlen, beklagt Meyer. „Deshalb sind die Informationen im Internet nicht aktuell“, sagt sie, die ihre Routen durch die Stadt vor eine Fahrt online genau planen muss.

Auf dem Bahnsteig muss die 54-Jährige ganz nach vorne. „Ich weiß ja nicht, ob eine alte oder eine neue Bahn kommt.“ Es kommt eine alte, Meyer klopft gegen die Scheibe am Führerhaus. An jedem Gleis hängt eine Rampe für die alten U-Bahnen, in die ein Elektrorolli nicht ohne Weiteres reinrollen kann. So wird der Rollifahrer zum Bittsteller. „Meistens sind die Fahrer aber ganz freundlich“, sagt Meyer.

Heute nicht. „In zwei Stationen muss ich wieder raus“, sagt die Rollstuhlfahrerin zum wortlosen U-Bahn-Fahrer, der sich Handschuhe überstreift, um die Rampe von der Säule zu heben. Der schüttelt den Kopf, als wolle er sagen: „Die paar Meter kannste doch och rollen.“ Dann knallt die Rampe vor ihre Füße.

Diese Reaktionen seien die eigentlichen Barrieren, sagt Margarete Meyer. Sonst wäre das mit der Rampe nur halb so schlimm.

Zurück auf der Straße drücken wir an der Ampel testweise den kleinen Knopf unter dem Kasten mit dem Blindensymbol. Er soll für Sehbehinderte vibrieren, wenn es grün wird. Doch hier vibriert nichts. Am Ende des Streifzugs werden immerhin drei von fünf Kästen funktioniert haben. „Die müsste halt einer regelmäßig testen, oder sie müssten automatisch Störungen an die Zentrale melden“, sagt René Schulze.

„Eine Stadt ohne Stufen – das wäre Science-Fiction“, sagt der Projektleiter

Vor dem Supermarkt in der Andreasstraße preist ein riesiges Schild: Einkaufswagen mit eingebauter Sitzmöglichkeit, breite Gänge, kostenloser Taxirufservice, Klingeln an den Gängen, Rollstuhlkasse, alles gut beleuchtet, kontrastreiche Beschilderung in großen Lettern – „damit Sie sich bei uns wohlfühlen“.

Seit 2012 klebt das Signet „Berlin barrierefrei“ an der Scheibe, ein weißer Pfeil auf gelbem Grund. Schulze, dessen Firma das Signet auf Antrag und nach Prüfung vergibt, sagt: „Unseres Wissens ist das der einzige Supermarkt in Berlin mit so einer Ausstattung.“ Das hat einen ökonomischen Grund: Drei Seniorenwohnanlagen liegen in der Nähe. Viele Kunden, die gerade im Laden einkaufen, dürften dort wohnen. Auch im Markt fehlen aber Puzzleteile: Der Geldautomat am Eingang ist zu hoch für Rollstuhlfahrer, die Tasten sind für Blinde nicht zu bedienen. Die Rollstuhltoilette ist zugestellt.

„Bei der Umsetzung hapert es oft“, urteilt Thorsten Stellmacher. Im Zweifel seien weder Architekten noch Handwerker in Sachen Barrierefreiheit geschult, und die DIN-Norm gehe häufig an praktischen, kreativen Lösungen vorbei. „In Amerika ist jede Toilette auch rollstuhltauglich“, sagt Schneider, „das ist inklusiv.“ Sonderlösungen verhinderten dagegen eine gesellschaftliche Durchmengung. Als Behinderter falle man immer auf.

Bei der Abschlusszigarette vor dem fast barrierefreien Supermarkt sprechen Schneider und Stellmacher von Visionen. „Berlin ist schon eine der freundlichsten Städte Europas“, sagt Schneider, der viel herumreist. Aber den Stadtentwicklern fehle eine Idee fürs große Ganze. Dafür, wie aus vielen Puzzleteilen ein geschlossenes Bild werde. Das Tempelhofer Feld, der neue Flughafen – Denkmäler wollten sich die Politiker setzen. Dabei sei das alles so gewöhnlich, sagt Stellmacher. „Eine ganze Stadt ohne Stufen – das wäre Science-Fiction.“