Lohn der Arbeit

In Arbeit (3): Nur wenn die Löhne im gleichen Maß steigen wie die Produktivität, wächst die Wirtschaft. Das jedoch verhindern die Arbeitgeberverbände – zu unser aller Schaden

Nur eine neue Balance der Machtam Arbeitsmarktkann Deutschlandaus der Krise führen

Und wieder geht es los. Immer die gleichen Rituale, die Tarifrunden in Deutschland begleiten. IG Metall oder Ver.di werden wegen ihrer zu hohen Forderungen beschimpft, die Arbeitgeber für ihre Tugend gelobt, nichts zahlen zu wollen. Ungeheuer hilfreich wäre es nun, wenn man sich zunächst einmal ein paar Fakten zu Gemüte führte und dann erst die Diskussion eröffnete.

In Deutschland hat die Produktivität der Arbeit in den Jahren 2000 bis 2005 um über 7 Prozent zugenommen. In der gleichen Zeit sind die Reallöhne um weniger als 1 Prozent gestiegen. 6 Prozent des Produktivitätszuwachses haben also die Arbeitgeber kassiert – und dennoch ist die Zahl der Beschäftigten gesunken. Im Euroraum ohne Deutschland hingegen nahmen die Reallöhne um über 4 Prozent zu, obwohl die Produktivität um weniger als 3 Prozent stieg. In den USA wurden die Reallöhne um 9 Prozent angehoben bei einer Produktivitätszunahme von über 11 Prozent. Alle Länder mit einem Reallohnanstieg nahe der Produktivitätslinie waren in Sachen Wachstum und Arbeitsmarkt besser als wir.

Das Ausland lehrt uns also: Nur wenn die deutschen Reallöhne wieder so wachsen wie die Produktivität, wenn also die Produktivitätszunahme gleichmäßig auf Löhne und Gewinne verteilt wird, kann sich die Konjunktur neben dem Export auch auf die Binnennachfrage stützen. Der Aufschwung erhält so ein stabileres Gleichgewicht seiner Antriebskräfte. Das heißt: Die Nominallöhne müssen um etwa 3 Prozent erhöht werden, weil die Produktivität um mindestens 1 Prozent zunehmen wird und die Europäische Zentralbank als Zielinflationsrate 2 Prozent anstrebt.

Vier Argumente werden üblicherweise gegen diese Formel vorgebracht. Erstens, eine Lohnerhöhung in dieser Größenordnung gefährde die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und reduziere die Gewinne, die man im Aufschwung braucht, um zu investieren. Zweitens, die Kaufkrafteffekte höherer Löhne seien gering, weil davon im Inland und bei den Unternehmen nur wenig ankomme. Drittens, die Forderung nach höheren Löhnen basiere auf der so genannten Kaufkrafttheorie der Löhne, die nachweislich falsch sei. Viertens, die Lohnfindung sei keine Politik, sondern ein Marktergebnis.

Der erste Einwand ist logisch falsch, weil Lohnforderungen in der Größenordnung von 3–4 Prozent die Wirtschaft nicht umhauen. Wenn von nun an die deutschen Reallöhne wieder wie die Produktivität steigen und sich die Nominallöhne dementsprechend an der Summe aus Produktivitätszunahme und Inflationsrate orientieren, bleibt die überragende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten. Sie wurde ja durch die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre erreicht. Deutschland verbessert lediglich seine Wettbewerbsfähigkeit nicht noch weiter, sondern behält „nur“ den extrem günstigen Status quo bei. Ähnliches gilt für die Gewinne. Würde die Lohnpolitik gerechter, bliebe es bei der extrem hohen Gewinnquote, was natürlich von Seiten der Gewerkschaften ein Zugeständnis ersten Ranges darstellte.

Der zweite Einwand, alle Kaufkraft höherer Löhne ginge irgendwo verloren, ist so alt wie dumm. Schon in den Siebzigerjahren war sich der Sachverständigenrat nicht zu schade durchzudeklinieren, wie wenig von 100 D-Mark Lohnzuwachs am Ende auf den heimischen Märkten ankommen. Heute gibt es keinen einzigen Arbeitgeberverband, der nicht diese Uralt-Argumentation stereotyp wiederholt. Da verschwinden auf wundersame Weise 25 Euro in den Lohnnebenkosten, 20 in den Steuereinnahmen des Staates, 30 in den Importen und 10 in der Ersparnis, so dass, sage und schreibe, nur 15 von 100 Euro der heimischen Güternachfrage zugeführt werden.

Natürlich ist das kompletter Unsinn, weil alle, die von diesen Abgaben profitieren, das Geld sofort und vollständig wieder ausgeben. Besonders perfide ist die Argumentation mit den Importen: Das Ausland gibt derzeit, ausweislich unseres gewaltigen Leistungsbilanzüberschusses, weit mehr bei uns aus, als wir dort nachfragen. Die Ersparnis schließlich, die einen wirklichen Entzug von Kaufkraft darstellt, ist bei wenig verdienenden Arbeitnehmern nachweislich wesentlich geringer als bei gut verdienenden Unternehmerhaushalten.

Auch der dritte Einwand ist ohne weiteres als Irrtum zu entlarven. Es geht gerade nicht um die so genannte Kaufkrafttheorie der Löhne. Kaufkrafttheorie kann ja nur heißen, dass die Reallöhne stärker als die Produktivität steigen sollen, was hier eindeutig nicht gemeint ist. Im Übrigen ist die Kaufkrafttheorie genauso fragwürdig wie ihr Gegenteil, die Gewinntheorie der Löhne, die von der gesamten herrschenden Lehre der Ökonomie in Deutschland mit tiefer Überzeugung vertreten wird.

Die ökonomische Logik ist oft symmetrisch, und so auch hier. Das heißt, dass Lohnsteigerungen oberhalb der Produktivität auf Dauer so wenig die Kaufkraft erhöhen, wie Lohnsteigerungen unterhalb der Produktivität dauerhaft die Gewinne steigen lassen. Nominale Lohnzuwächse oberhalb dieser Zielformel führen auf Dauer zu Inflation und solche unterhalb der Zielformel zu Deflation.

Der vierte Einwand, Lohnfindung sei ein Marktergebnis und keine Politik, zielt ins Leere, weil er die massive Einflussnahme des Staates in den Neunzigerjahren glatt unterschlägt. Spätestens mit dem Bündnis für Arbeit, das Helmut Kohl 1996 inszenierte, ließen Politik und Wirtschaft die klassische Lohnformel der Vergangenheit fallen. Auch danach hat die Politik in vielfältiger Weise Einfluss auf die Tarifergebnisse genommen – sei es über die Abschlüsse im öffentlichen Dienst, sei es über die Sozialgesetzgebung, sei es über Druck in den Medien.

Mehr noch, die Lohnfrage ist eine Machtfrage. Durch das allgemeine Versagen der Wirtschaftspolitik, durch ihre Unfähigkeit nämlich, nach dem Jahr 2000 einen nachhaltigen Aufschwung in Gang zu setzen, hat die Politik die Machtbalance massiv zugunsten der Arbeitgeber verschoben.

Höhere Löhne verbessern lediglich Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit noch weiter

Nur eine neue Balance der Macht am Arbeitsmarkt kann Deutschland aus der Krise führen. Die Politik braucht dazu Einsicht und die Tarifpartner öffentlichen Druck – allerdings nicht aus der gängigen neoliberalen Richtung. Übrigens, Entlassungsproduktivität ist zu Recht zum Unwort des Jahres gewählt worden. Jede Produktivitätssteigerung ist nämlich ein möglicher Entlassungsgrund, und deswegen kann man gar nicht unterscheiden zwischen guter und schlechter Produktivität, wie es die deutschen Erfinder der Entlassungsproduktivität tun.

Wird allerdings der Produktivitätszuwachs konsequent und in gleicher Weise zur Erhöhung der Löhne, der Nachfrage und der Gewinne genutzt, ist er immer gut, und das allseitige Gerede von der schlechten Produktivität erübrigt sich. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis bei den aktuellen Tarifverhandlungen durchsetzt.

HEINER FLASSBECK

FRIEDERIKE SPIECKER