Ein Ort, den alle kannten

Das Unglück von Bad Reichenhall trifft die Stadt, trifft unsere Gesellschaft ins Mark: Man mag, man kann der schützenden Hand der Gemeinschaft nicht mehr so recht trauen

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Pars pro toto, sagen die Lateiner. Die alten Griechen wiederum kannten einen Ort, der genau dafür stand. Der Marktplatz, die Agora, war das Teil, welches ein Ganzes, die Gemeinschaft der Bürger, symbolisierte. Auf dem Marktplatz traf man sich, noch nicht um Trachtenfeste zu feiern oder Büttenreden zu beklatschen, so doch, um der Gemeinschaft einen Sinn zu geben. Und sei es nur, um durch das Los der Scherben einen aus der gemeinsamen Mitte zu verbannen.

Gemeinschaften, religiöse, politische oder emotionale, brauchen immer Orte, brauchen einen Ort. Aus dieser Notwendigkeit sind die großen Heiligtümer entstanden. Und die kleinen Heiligtümer, die Kirchen, Moscheen oder Synagogen. Nicht zuletzt waren es Orte, mit denen die verschiedenen gemeinschaftsstiftenden Sinnangebote der Moderne miteinander in Konkurrenz getreten sind. Ein Ortsverein, so stand es in den 1910er-Jahren in einem Brief der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, bräuchte zunächst einmal mindestens das Hinterzimmer einer Schankwirtschaft, um das Interesse der Genossen zu wecken.

Mit den Gemeinde- und Gemeinschaftsbauten der Nachkriegsära wurden diese Orte weitreichend säkularisiert. Bauherr war nun die Stadt, die Gemeinde, also der Staat, die Gemeinschaft. Mit den letztlich ja aus Steuereinnahmen finanzierten Dorfgemeinschaftshäusern und den Festhallen verband sich kein Parteibuch mehr und auch kein Glaubensbekenntnis. Gar kein Glaubensbekenntnis? Im Gegenteil waren Gemeindebauten der Bundesrepublik – und somit auch die Schwimm- und Eislaufhalle in Bad Reichenhall – buchstäbliche Bürgerhäuser. Tragende Fundamente einer Gesellschaft, die vor allem an sich selbst und an eine allen gemeinsame Ordnung zu glauben hatte.

Diese Bauten symbolisierten jene nivellierte Mittelschicht, von der uns der Stadtpsychologe und Deutschlandtraumdeuter Alexander Mitscherlich einmal erzählt hat. Und sie hielten uns an, diese Selbstverortung, also große, kleinbürgerliche Gemeinschaft, aufrechtzuerhalten – auch oder gerade weil die ein oder andere einkommensschwache Familie ihre Zehnerkarte vom Sozialamt bezahlt bekam. Die Eishalle in Bad Reichenhall war somit auch ein Allgemeinplatz der alten Bundesrepublik. „Ich habe hier Schlittschuhlaufen gelernt“, „Wir haben da doch jedes Jahr Fasching gefeiert“, rekonstruiert nun die kollektive Kleinstadtseele eine gerade verendende Epoche. „Alle“ seien gerne zum Schwimmen und Schlittschuhlaufen gekommen. Auch „weil es so billig war“. Billiger als in den oft privat geführten Erlebnisbädern und Eisstadien der Umgebung.

Das Unglück von Bad Reichenhall trifft eine Stadt ins Mark. Eben auch, weil die Eishalle ein Ort war, den eben alle kannten und der so alle zu potenziellen Opfern macht. Anders, als wenn etwa die tragende Zwischendecke einer Fabrik eingestürzt wäre. Genauso wie bei einer Massenkarambolage auf irgendeiner Bundesautobahn. Schließlich ist das Auto auch so ein gemeinschaftssinnstiftendes Ding; ein Ort, an dem wir alle sind.

Das Unglück von Bad Reichenhall trifft eine Gesellschaft ins Mark, weil sie nicht mehr mit dem Finger auf zerborstene Moskauer Spaßbäder zeigen kann. Und behaupten, dass es bei uns so etwas nicht geben würde. Letztlich egal, was die Archäologen dieser Katastrophe nun als eigentliche Unfallursache ermitteln werden, das Krisenthermometer zeigt es bereits an: Es ist die schützende Hand der Gemeinschaft, der man nicht mehr so recht trauen mag. „Wahlkampftaktische Erwägungen“ hätten eine rechtzeitige Sanierung der Sportanlage verhindert, brodelt es in der 18.000-Seelen-Gemeinde. Und vielleicht stimmt davon immerhin so viel: Dem von einer Freien Wählergemeinschaft getragenen Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier schien der erlebnisarme Betonzweckbau, eine Art Sparvariante der Münchener Olympiaarchitektur, tatsächlich nicht mehr zeitgemäß. Gerade erst hatte man die 30 Millionen Euro teure, nagelneue Rupertus-Therme ins Voralpenland gesetzt.

Und so mag man auch in der Bewegung der Katastrophe selbst eine letzte Metapher sehen: Die Halle knarzte oben im Gebälk. Das schützende Dach wurde zur tödlichen Last. Im Fundament war der Bau noch ganz solide. Und es gibt in diesen Tagen wohl nicht wenige, die sich, um einen Kreis zu schließen, nun ihrerseits ein Scherbengericht wünschen würden. Eine Gemeinschaft sind die Bad Reichenhaller und Reichenhallerinnen demnach zumindest in ihrem Zorn. Ob zu Recht oder nicht: Es ist auch ein Wehklagen im Sonnenuntergang einer Epoche.