Jahrestag Zusammenstöße in Odessa: Gespalten auch im Gedenken

Ein Jahr nach dem Brand des Gewerkschaftshauses mit 42 Toten in Odessa erinnern beide Seiten an die Opfer. Einen Untersuchungsbericht gibt es nicht.

Eine Frau in Odessa hält ein Bild ihres Sohnes fest. Er starb bei den Kämpfen am 02. Mai 2014. Bild: dpa

ODESSA taz | „Ihr Mörder! Faschisten! Ihr habt meinen Bruder umgebracht! Und jetzt lasst ihr mich nicht mal hinein, um ihm zu gedenken“, schreit eine Frau, die einen Strauß rote Tulpen in der Hand hält. Tränen kullern über ihr Gesicht, verbissen versucht sie, die Reihe der Milizionäre an dem Metalldetektor zu durchzubrechen. Ihre Sachen werden durchsucht. Als sie endlich im Gewerkschaftshaus ist, spuckt sie hasserfüllt Richtung Miliz.

Odessa, Kulikowo Pole. Hier versammeln sich an Samstag viele der Opfer der tragischen Ereignisse vom 2. Mai 2014. An jenem Tag kamen wegen der Zusammenstöße von proukrainischen und prorussischen Aktivisten sechs Menschen ums Leben. Bei dem anschließenden Brand des Gewerkschaftshauses starben weitere 42 Personen. Da bis heute keine offiziellen Untersuchungsergebnisse vorliegen, kursieren unzählige Spekulationen.

Die Atmosphäre um das Gewerkschaftshaus ist angespannt. Seit den frühen Morgenstunden ist es abgesperrt. Ein Dutzend Panzerfahrzeuge und Feuerwehrwagen stehen einsatzbereit. Laut Behörden sorgen an diesem Tag in Odessa etwa 4.000 Miliz- und Armeeangehörige für Ordnung. Aber gerade das reizt diejenigen, die der Toten gedenken wollen. „Wo wart ihr denn alle vor einem Jahr?“, hört man aus der Menge. Die Aggressiveren legen nach: „Ihr seid für diesen Genozid zuständig! Der Rechte Sektor will uns alle vernichten!“

Vor ein paar Wochen wurde der Aluminiumzaun um das Gewerkschaftshaus von proukrainischen Aktivisten in den Nationalfarben Blau und Gelb gestrichen. Das hat wohl den Beschützern des selbst errichteten Memorials – mit Kerzen, Blumenkränzen und Fotos mit Georgs-Bändchen – nicht gefallen. Deswegen haben sie über den Zaun schwarzen Stoff gespannt und darauf Portraits von den 42 im Gebäude Umgekommenen aufgehängt. Die überwiegende Masse der Trauernden sind Ältere.

Erinnerung an die Toten

Eine zierliche junge Frau mit einem riesigen Blumenstrauß fällt in der Menge auf. Seit einer halben Stunde starrt sie schweigend durch die aufgebrochenen und verkohlten Türen in das Gewerkschaftshaus. Sie heißt Schuschanna, seit zehn Jahren lebt sie in Odessa. „Keiner von meinen Bekannten ist hier umgekommen. Aber ich bin gekommen, um der Toten zu gedenken. Ich ich bin für die Ukraine, das spielt aber keine Rolle, hier sind doch Menschen gestorben.“ Tatsächlich sind hier kaum proukrainische Kräfte vertreten. Im Vorfeld wurde entschieden, die Trauerfeiern beider Lager zu trennen, um Konflikte zu vermeiden.

Die proukrainischen Aktivisten gedenken der Toten des 2. Mai auf dem Soborna Platz in einem anderen Stadtteil. Hier hatte die Tragödie ihren Lauf genommen. Zwei Teilnehmer der proukrainischen Kundgebung sind damals durch Schüsse tödlich verletzt worden. Hier sind etwas weniger Menschen als vor dem Gewerkschaftshaus zusammengekommen. Aber im Unterschied zu Kulikowo Pole sind hier viel mehr Trauerbändchen zu sehen. Die Priester der orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche haben einen gemeinsamen Trauergottesdienst gehalten.

„Wir haben damals gesiegt, dieser Kampf aber geht weiter. Der 2. Mai ist der neue tragische Tag in der Geschichte unserer Stadt. Das ist der Tag der Befreiung Odessas von Faschisten“, spricht ein Aktivist der Odessaer Selbstverteidigung die Anwesenden an und meint damit prorussische Faschisten. Die Stimmung ist stärker von Stille und Trauer geprägt als auf dem Kulikowo Pole. Während der Schweigeminute gehen viele in die Knie und neigen ihre Köpfe als Zeichen der Trauer.

Dass Zusammenstöße an diesem Tag ausblieben, geht nicht nur auf das Konto der Ordnungshüter. Die Leute selbst haben jeden Anflug von Aggression im Keime erstickt. Und das nicht, weil die Stadt versöhnt und einig ist, sondern weil die Menschen nach einem Jahr Krieg am Ende ihrer Kräfte sind. Solange die Tragödie nicht restlos aufgeklärt und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden, wird kein Dialog möglich sein. Denn die Tragödie ist tatsächlich für alle Odessaer gleich.

Übersetzung aus dem Russischen: Irina Serdyuk

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