Europäische Atomgemeinschaft: Die Jugendsünde Europas

Alle EU-Staaten sind zur Förderung der Atomkraft verpflichtet. Doch Mängelbehebung an AKWs ist freiwillig, Nachbarländer haben keine Handhabe.

Zwiespältiger Sommerspaß vor dem AKW Tihange in Belgien. Bild: reuters

BERLIN taz | In Aachen haben sie nicht allzu viel vom Atomausstieg. Drei Reaktoren im belgischen Tihange sind 50 Kilometer Luftlinie entfernt, näher als jedes deutsche AKW. Derzeit wird die Anlage gewartet, und da beginnt das Problem – in Meiler Nummer zwei.

Dort hat der Reaktordruckbehälter, in dem die nukleare Kettenreaktion stattfindet, über 2.000 kleine Risse. Erst im Sommer 2012 war der Fehler dank einer neuen Messmethode bei einer Routinekontrolle aufgefallen. Die Atomaufsicht des Landes, FANC, berief eine internationale Expertenkommisson unter deutscher Beteiligung ein und erklärte die Risse für unbedenklich. Im Mai 2013 gingen die Reaktoren wieder ans Netz.

So stellt sich die Frage: Was können die Aachener dagegen tun, dass Tihange wie geplant am 15. Juni wieder angefahren wird? Nichts. Auch die Bundesregierung schreibt auf eine Anfrage der Bundestagsgrünen, es sei „keine Rechtsgrundlage ersichtlich“, die es ermöglichen würde, die Außerbetriebnahme eines ausländisches Atomkraftwerks zu ermöglichen.

Gibt es dagegen Risse in Reaktoren, hat die EU-Kommission keine Handhabe. Zwar gibt es seit 2009 eine Richtlinie zur nuklearen Sicherheit; sie hat jedoch gerade mal drei Seiten. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 ließ die EU-Kommission zwar sämtliche 145 Atommeiler in der EU stresstesten. Die Ergebnisse waren unterirdisch: 54 Reaktoren sind nicht ordentlich gegen Erdbeben gesichert.

Freiwillge Mängelbehebung

Doch die Behebung der Mängel ist für die Staaten freiwillig – obwohl der Anspruch an eine sichere Atomenergie zum Gründungsmythos der EU gehört. Als Frankreich, Italien, die Beneluxstaaten und die BRD am 25. März 1957 mit den Römischen Verträgen die Grundlage der heutigen EU legten, bildeten sie auch die Europäische Atomgemeinschaft. Heute nennt sie sich Euratom – eine formal autonome internationale Organisation.

Alle EU-Staaten sind automatisch dort Mitglied und verpflichten sich laut Präambel „die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen“. Laufzeit des Vertrags: unbegrenzt. Austritt: wahrscheinlich nicht möglich. Offiziell wird der Vertrag als wichtiges Instrument für die gemeinsame nukleare Sicherheit verkauft. Er regelt auch die Versorgung mit Kernmaterial für die Medizin. Doch Sanktionen gegen Staaten, die mit der nuklearen Aufsicht pfuschen, gibt es nicht.

Das haben die EU-Mitgliedstaaten stets verhindert: Länder, die der Atomkraft entsagt haben – etwa Deutschland, Italien oder Österreich –, fürchten einen zu atomfreundlichen Kurs in Brüssel. In Frankreich oder Großbritannien ist es andersherum. In den beiden Atomwaffenstaaten ist Atompolitik von jeher nationales Heiligtum.

Debatte: Nein!

Also bleibt alles beim Alten: Das Euratom-Budget (im EU-Haushalt) von 2014 bis 2018 beträgt 1,6 Milliarden Euro. Die Grünen schätzen daraus den deutschen Anteil auf 20 Prozent. Ein Teil des Geldes fließt in den Forschungsreaktor Iter, der derzeit in Frankreich gebaut wird und ab 2026 Energie nicht durch Atomspaltung, sondern durch -fusion liefern soll. Der Rest geht in die Entsorgung von Atommüll und in die „Sicherheitsforschung“, üblicherweise ein EU-Bonmot für Reaktorforschung.

Im Wahlkampf spielt das Thema kaum eine Rolle – wohl auch, weil umstritten ist, ob einzelne Staaten überhaupt aus Euratom austreten können. Der Verein Mütter gegen Atomkraft hat deutsche Spitzenkandidaten für die EU-Wahlen befragt. Rebecca Harms (Grüne) sagt: Ja, zur Not müssten Staaten aussteigen. Der Union zufolge ist dies automatisch mit einem EU-Austritt verbunden. Die SPD schreibt, ob ein Ausstieg möglich wäre, sei unter Völkerrechtlern strittig.

Es scheint, als schleppe man den Euratom-Vertrag als Jugendsünde Europas einfach mit durch das 21. Jahrhundert – niemand will an dieser Baustelle rumwerkeln. Selbst der grüne Umweltminister von Baden-Württemberg, Franz Untersteller, möchte keine Debatte über ein Ende von Euratom. Dafür versucht er, die Bundesregierung zu einem härtere Kurs in Brüssel zu bewegen. Denn dort wird gerade eine neue Richtlinie zur Nuklearsicherheit verhandelt.

Die sieht beispielsweise vor, dass sich die EU-Staaten zusammensetzen und an gemeinsamen Standards für Atomsicherheit arbeiten – alle sechs Jahre nur allerdings. Konkrete Vorgaben zur nuklearen Sicherheit gibt es nach wie vor nämlich keine – sonst müssten einige AKWs wahrscheinlich sofort vom Netz, etwa das haarsträubendste Atomkraftwerk Europas im tschechischen Dukovany. Dessen Reaktoren sind nicht einmal durch einen zusätzlichen Sicherheitsbehälter abgeschirmt, der bei einem Unfall das Allerschlimmste verhinderte. Einen solchen Schutz hatten sogar die zerstörten Reaktoren im japanischen Fukushima – ohne sie wäre Tokio heute wahrscheinlich unbewohnbar.

Die EU-Kommission preist die neue Richtlinie für ihre „hohen Sicherheitsziele“. Untersteller kritisiert, international sei üblich, die Atomaufsicht nicht in Energie- oder Wirtschaftsministerien anzusiedeln, weil die zu eng mit AKW-Betreibern verbandelt sind. In der EU ist der Energiekommissar für die nukleare Sicherheit zuständig. „Der zuständige Kommissar als Befürworter des Ausbaus der Atomenergie kann nicht zugleich für die nukleare Sicherheit zuständig sein“, bemängelt Untersteller. Das allerdings wird sich auch in der neuen EU-Kommission kaum ändern.

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