Umgang mit Intersexualität: Aus der Haut gefahren

In Deutschland leben mehr als zehntausend Menschen, die intersexuell sind. Viele von ihnen werden zwangstranssexualisiert – so wie Lucie Veith.

Lucie Veith vor Bildern in ihrer Wohnung. Bild: Sophie Kirchner (Ausschnitt eines Fotos)

HAMBURG taz | Lucie Veith ist eine Herrin: groß, laut, stämmig, vergebend. Ob sie je einen Orgasmus hatte – sie weiß es nicht. Sss, sssssss, schon im zweiten Satz dieses Wort, diese Offenbarung. Ist es eine Übertretung des guten Geschmacks?

Von solch gutem Geschmack will Veith nichts wissen.

Sie wohnt in einem kleinen Reihenhaus in einem Hamburger Vorort. Der Flur eng, die Treppe schmal, die Wände voll Bilder. Fast alle hat sie gemalt: Figuren, eingezwängt zwischen Rot wie Blut und Schwarz wie Verzweiflung, zwischen „ich bin“ und „ich sei“. Es ist das Tagebuch ihrer Beherrschungen, mit dem sie ihr Häuschen überbordend belädt.

„Deine Bilder haben was, ich kann es nicht entschlüsseln“, zitiert sie Betrachter. „Das nicht Entschlüsselbare ist das Tabu.“ Die dazu passenden Sätze ihrer Eltern kommen ihr stakkato über die dunkelrot geschminkten Lippen im fleischigen Gesicht: „Sprich nicht darüber!“ „Was mit dir ist, geht niemanden was an!“ So werde aus der Natürlichkeit, die jedes Kind hat, etwas Gewaltsames. „Besser nicht auffallen.“

Auf dem Schrank im Wohnzimmer steht eine Fotografie ihrer Eltern – sie sehen gütig aus. Er Handwerker, sie Hausfrau. Lucie, 1956 geboren, ist das erste von fünf Kindern. Ein wildes Mädchen, keines, das „Graswieger“ sein will – eine, die im Sitzen pinkelt. „Lucie!“, entrüsteter Elternschrei. Damals schien alles noch normal. Nur dass sie mit Lackschuhen Bäume hochkletterte. Aber ist das so schlimm? Die Antwort – klar – ja: Weil es die fünfziger, die sechziger Jahre waren. Weil es ein Dorf war – die Nazis von der Oberfläche verschwunden, die Angst noch da.

„Ich hatte immer Tampons dabei“

Richtig komisch sei es dann geworden, als die anderen Mädchen in die Pubertät kamen, kicherten, menstruierten, dem Sportunterricht fern blieben. Blut, Binden, Bauchschmerzen. Aufregung, Augenblicke, ein Kuss. Veith tat so, als gelte das auch für sie. „Ich hatte immer Tampons dabei.“ Dabei war doch etwas anders: „Ich roch nicht so wie meine Freundinnen.“

Sophie Kirchner hat an der HAW Hamburg studiert und ist freie Fotografin. Im Rahmen eines Seminars zum Thema „Fremd“ fotografierte sie intersexuelle Menschen, dann wurde daraus ihre Diplomarbeit. Erst danach haben verschiedene sonntaz-AutorInnen diese Menschen besucht und portätiert. Sophie Kirchner interessiert sich im Kern ihrer Arbeiten für die Identität des Menschen, für Tabus und gesellschaftliche Randgruppen.

www.sophiekirchner.com

Die Camouflage ist nichts gegen die Pathologisierung, die bald kommt. Auf jeden Fall habe sie damals nur für sich aufbegehrt. Für die große „Aufbegehrgeneration“ sei sie zu jung gewesen. Ihr Mann, fünf Jahre älter, den sie mit 21 Jahren heiratet, der sei nach Fehmarn gefahren. Jimi Hendrix, Janis Joplin, Cry, baby cry. Alles unter freiem Himmel. „Ich bin denen hinterhergehechelt.“

Als sie immer noch nicht menstruierte, als alle Freundinnen es längst taten, gibt es Untersuchungen. Ergebnis: „Man druckste herum“, eröffnete ihr, dass sie keine Kinder bekommen könne. „Ich war ein wenig traurig, aber es hat mich nicht umgehauen“, sagt sie am Tisch in ihrem Wohnzimmer. Es gibt Tee mit Kandis und den Blick auf den Garten. Klein, fünf auf dreißig Meter ist er vielleicht, blühend, opulent, wild, mit allen Farben des Grüns. Die Gärten daneben haben nur eine.

Sie erfährt, dass sie Hoden im Körper hat

Sie war 23, verheiratet, Kunststudentin in Düsseldorf, als sie Blut im Schlüpfer hat. „Vielleicht kann ich doch Kinder bekommen.“ Bei der Untersuchung erfährt sie was anderes: Dass sie xy-chromosomal ist, dass sie Hoden im Körper hat. Ihr Geschlecht: männlich. Allerdings verarbeitet ihr Körper das Testosteron anders als üblich. In der Folge entwickelte sie sich weiblich. Ein Aussehen, in dem sie gelernt hatte aufzugehen als schöne Frau. „Aber ich war nie eine Frau.“ Wieder zuhause, sagt sie zu ihrem Mann: „Sie haben mir gesagt, ich bin ein Mann.“

Die Ärzte machen ihr Angst. Ihre Gonaden seien entartet. Sie schlagen eine Entfernung vor. „Gonadektomie heißt es im Mediziner-Jargon“, sagt sie. „Das ist die schöne Sprache der Täter. Aber was wirklich passierte, wird nicht schöner dadurch. Im Klartext: Man hat mich kastriert.“

Auch was hier steht, wird nicht schöner, wenn man es in schönen Sätzen verpackt.

„Ich wollte leben“, sagt Veith, „deshalb ließ ich mich auf die Operation ein. Ich wusste nicht, dass man aus mir einen Eunuchen macht, als man mir sagte, meine Hoden seien entartet.“ Kommt hinzu: Der Arzt beschwor sie, mit niemandem darüber zu reden, „sonst bedeute das das soziale Aus.“ Später, viel später, hat sie den Beweis in den Händen, dass ihre Hoden gar nicht entartet waren, erzählt sie.

„Grau von innen“

Nach der Operation fühlt sie sich „kalt an. Und grau von innen“. Langsam hört ihr Körper auf, Testosteron zu produzieren. Anstatt dies zu substituieren, verschreiben die Ärzte ihr Östrogene – Medikamente für Frauen in den Wechseljahren. Die Ärzte setzen damit einen geschlechtsverändernden Prozess in Gang. „Sie zwangstranssexualisierten mich.“ Zwangstranssexualisieren – was für ein Wort. Man kann es kaum beugen.

Lucie Veith wird depressiv, nimmt zu, wird dick, immer dicker. „Ich war dreißig Jahre lang ein Teigklumpen.“ Sie stürzt sich in Arbeit. Wird Filialleiterin einer Bank, arbeitet, verdrängt, arbeitet, verdrängt, arbeitet, verdrängt, bricht zusammen, überlebt, weil sie die Kunst noch hat. Sie malt spontan, expressiv, hart. Mit Rot, mit Weiß, mit Schwarz. „Da spritzt das Blut“, sagt sie. Weiße Lilien tragen bei ihr Masken.

Die Operation war 1979, der Zusammenbruch 1997. Am Ende wird es fast dreißig Jahre gedauert haben, bis Lucie Veith aus der Haut fährt, obwohl sie längst aus der Haut gefahren war. „Heute frage ich mich, was mich so lange in der Isolation gehalten hat.“

Erzwungene Zweigeschlechtlichkeit

Im Jahr 2000 schenkt ihr Mann ihr einen Computer. „Testikuläre Feminisierung“ wird das erste Wort, das sie in der Suchmaschine eintippt. Die Seite der XY-Frauen, eines Netzwerkes von Intersexuellen, floppt auf. „Es war wie ein Schock. Schlagartig war mir klar: Was mir passierte, passiert auch anderen. Da steckt Struktur dahinter.“ Welche? „Die von der erzwungenen Zweigeschlechtlichkeit.“ Ungeduldig sagt sie es. Was sie verstanden hat, das müssen andere auch verstehen.

Veith wird Mitglied bei den XY-Frauen, geht zu Selbsthilfetreffen, ist überwältigt, weil da Sprache ist, weil benannt wird, dass Dinge passieren, die falsch sind, weil Forderungen aufgestellt werden. Eine: Niemand darf zwangsoperiert werden. „Ich war wieder da. Diesmal richtig.“ Seit 2005 nimmt sie Testosteron. Sie hat es sich selbst verordnet.

Heute ist Lucie Veith im Vorstand des Vereins „Intersexuelle Menschen“, der Lobbyarbeit macht, um die Verletzungen anzuprangern, die Intersexuellen zugefügt werden, nur damit die weiblich-männliche Dichotomie nicht aufgelöst werden muss. Veith spricht im Bundestag, im Ethikrat, bei Ärztekongressen. Und sie hat für die Vereinten Nationen an den kritischen Berichten mitgearbeitet, die aufzeigen, wo Deutschland die verbindlich unterzeichneten UN-Konventionen gegen Folter, gegen Diskriminierung von Frauen und Behinderten nicht einhält. Im Umgang mit Intersexualität gibt es massive Versäumnisse.

Hormone schon bei Kindern

Offiziell leben ungefähr zehntausend Intersexuelle in der Bundesrepublik. Selbst die Regierung schätzt die Zahl höher. Denn etwa 350 Kinder mit uneindeutigem Geschlecht werden jedes Jahr in Deutschland geboren. Je jünger die Kinder sind, wenn sie von ihren Eltern und von Medizinern in ein Geschlecht gepresst werden, desto größer die Schäden. „Für Kinder sind Hormone nicht zugelassen. Intersexuellen Kindern verabreicht man sie trotzdem.“

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit werde ignoriert, sagt Veith. Wer macht sich – ein Beispiel – klar, was es für ein intersexuelles Kind bedeutet, wenn es eine „Neovagina“ bekommt, wenn es „penetrationsfähig gemacht wird“? Sie weiß es: „Die Neovagina muss bougiert werden, also geweitet.“ Wie? „Die Eltern müssen jeden Tag mit dem Finger in die Vagina gehen und ein Phantom einführen. Das Kind muss damit schlafen. Das ist Folter.“ Vielleicht sogar mehr. „Das mangelnde Mitgefühl für diese Menschen ist mir persönlich unverständlich.“ Neovagina, Bougierung, Gonadektomie, Transsexualisierung. Es sind Worte, es ist Wirklichkeit.

Was für eine Wirklichkeit? Lucie Veith zeigt auf ein Bild an der Wand. Ein roter Fleck mit drei schwarzen Figuren, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Die dunklen Kreaturen, das ist sie selbst in ihrer Dreiheit: Wer-bin-ich. Wer-war-ich. Wer-hätte-ich-sein-können. „Wer man hätte sein können, das bewegt alle Intersexuellen, die in die medizinische Intervention geraten sind.“

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