Der Norden Kanadas: Ein Sommer mit Eisbär

Bei einem Aufenthalt in der abgelegenen Lodge Nanuk an der Hudson Bay können Naturliebhaber Auge in Auge mit dem größten Landraubtier der Welt frühstücken.

Der Bär ist los – auf der Nanuk Lodge in Manitoba, Kanada. Bild: Birgit-Cathrin Duval

Eben will ich meinen ersten Schluck Kaffee trinken, als er auftaucht. Ich verlasse den Aufenthaltsraum und gehe nach draußen. Da ist er, groß, zottelig, vom Regen durchnässt, der Pelz mehr grau als weiß. Mit neugierigem Blick sieht er mich an.

Das fängt gut an. Es ist August und wir sind zur Nanuk Polar Bear Lodge an die Hudson Bay in Manitoba im nördlichen Kanada gekommen. Wir wollen die außergewöhnlichste Safari der Welt erleben. Auge in Auge mit dem größten Landraubtier der Erde. Und das zu Fuß, ohne in einem gepanzerten Fahrzeug zu sitzen.

Andy McPherson ist ausgebildeter Naturführer und Bärenexperte. Zusammen mit Butch Saunders und Gordi Sincler, deren Großväter einst die Gegend besiedelten, ist Andy für unsere Expedition verantwortlich. Gordi und Butch kennen die Umgebung so gut wie ihre 303-Winchester. „Sie schießt noch immer gerade wie ein Pfeil“, sagt Butch und streichelt über den Lauf.

Die Region: Manitoba liegt in der Mitte Kanadas und ist mit 649.950 Quadratkilometern die sechstgrößte Provinz Kanadas. Etwa 16 Prozent der Fläche liegt unter Wasser, deshalb wird Manitoba auch das "Land der 100.000 Seen" genannt. Hauptstadt ist Winnipeg mit 700.000 Einwohnern. www.travelmanitoba.com

Anreise: Flüge ab Frankfurt mit Air Canada via Toronto nach Winnipeg, weiter mit Calm Air nach Gillam, Charterflug von Gillam zur Nanuk Lodge.

Veranstalter: Churchill Wild ist Anbieter von Eco-Wildnistouren, die sich auf Eisbärenbeobachtung spezialisiert haben. www.churchillwild.com; www.nanukpolarbearlodge.com

Reisezeit: Während des arktischen Sommers von Juli bis August. Temperaturen reichen von Minusgraden bis zu plus 30 Grad.

Gordi nennt seine liebevoll „Uncle Tom“. Mit breitem Grinsen, das etliche Zahnlücken preisgibt, erinnert sich Gordi, als vor Jahren ein Eisbär, den sie „Big John“ nannten, auf der Suche nach etwas Fressbarem sogar bis in die Küche kam. Nanuk wurde damals von Jägern genutzt, als Lager während der Gänsejagd. Einen Zaun gab es damals noch nicht.

Dicht am Bär

„Willkommen am Ende der Welt“, begrüßt uns Mike Reimer, Chef von Churchill Wild und Eigentümer von Nanuk. Mike Reimer wusste schon lange um das Potenzial der Lodge. Im Sommer, wenn die Bay eisfrei ist, ist der Bär los. Bis zu 400 Eisbären kommen während der Monate, in der das Land grün und schneefrei ist, berichtet Mike. Als das Anwesen zum Verkauf stand, zögerte er nicht lange.

Am nächsten Tag verlassen wir Nanuk. Wir ruckeln durch die topfebene, aufgeweichte Tundra. Allradfahrzeuge, sogenannte Quads, ziehen die Anhänger, auf denen wir sitzen. Kein Zaun, kein rettendes Fahrzeug, das uns umgibt. Näher können wir der Wildnis nicht mehr kommen.

Andy hat einen Bären erspäht, nur wenige hundert Meter entfernt. Jetzt geht es zu Fuß weiter. Keiner spricht. Alle sind gebannt, warten auf Anweisungen. Andy geht voraus, wir folgen ihm. Dicht an dicht, um den Bär nicht aufzuschrecken. Doch er hat uns bereits erspäht. Neugierig hebt der Bursche seine Schnauze. Andy gibt ein Zeichen, wir sollen stillstehen. Er wartet ab, wie der Eisbär auf unsere Anwesenheit reagiert. Distanziert er sich, werden wir uns nicht weiter nähern. Doch der Eisbär kommt näher. Mein Herz klopft bis zum Hals.

Plötzlich ist er zwischen den Büschen verschwunden. Nervös trete ich auf der Stelle, nur das Schmatzen der Gummistiefel auf dem matschigen Boden ist zu hören. Wo ist der Bär? Da, zwei pelzige Ohren und ein schwarzes Augenpaar tauchen zwischen grünen Sträuchern auf. Irgendwie knuddelig.

Wilde Blaubeeren

„Hey Buddy, das ist nah genug.“ Andy spricht mit ruhiger, aber deutlicher Stimme. Zwischen uns und dem Bären liegen etwa 20 Meter. Butch und Gordi geben uns per Handzeichen zu verstehen: zurück auf den Anhänger. Die Sicherheit der Gäste hat oberste Priorität – wir müssen den Anweisungen folgen.

Fasziniert beobachten wir vom Anhänger aus unseren Eisbären, der hin und wieder den Kopf in unsere Richtung hebt. „Er ist sich unserer Anwesenheit sehr wohl bewusst“, sagt Andy. „Aber jetzt weiß er, dass wir keine Gefahr für ihn darstellen.“

Mag das Camp auch rustikal sein, das Essen auf Nanuk ist exquisit. Selbstgebackenes mit wilden Blaubeeren, Cranberries und Schwarzen Johannisbeeren, leckeren Eintopf und Wild mit eigenen Gewürzmischungen, herrlich duftendes Brot und frische Salate.

Auf Nanuk ticken die Uhren anders. Den Zeitplan gibt die Natur vor. Wir müssen uns nach Gezeiten und Wetter richten. Auch am nächsten Tag. Noch ist die Flut am Morgen zu hoch, um den Fluss zu überqueren. Erst am späten Vormittag können wir zu unserer Ganztagesexpedition aufbrechen.

Wir beobachteten Elche, Spuren von Eisbären und Wölfen, ein Beluga-Skelett und unzählige Schwärme von kanadischen Gänsen in der mondgleichen Weite der Küste. Doch von Bären keine Spur. „Wir arbeiten hart für euch, wir finden die Bären“, sagt Gordi, als er in unsere enttäuschten Gesichter blickt.

In Verteidigungsstellung

Wir erreichen die Mündung des Mistikokan-Flusses, der hier in die Hudson Bay fließt. Ein Land, das für Butch eine besondere Bedeutung hat. Er zeigt auf den Boden, wo noch spärliche Reste einer ehemaligen Besiedlung zu erkennen sind. Hier lebten seine Vorväter vor mehr als 100 Jahren. Als sein Blick in die Ferne schweift, verstehe ich, dass er einer der Letzten seiner Generation ist, einer Kultur, die so reich und außergewöhnlich ist, die doch mehr und mehr verschwindet, wie die Hütte, die sich hier einst befunden hat.

Mit breitem Grinsen winkt uns Gordi zu sich. Er hat einen Eisbären an der Küste ausgemacht. Noch ist er nur als kleiner Punkt am Horizont zu erkennen. Butch und Andy packen ein Picknick aus. Alle hoffen wir, dass der Bär näherkommt, während wir unsere Sandwiches kauen. Doch dann bleibt uns der Bissen im Hals stecken. Der Wind dreht und trägt den Geruch von Käse und Schinken Richtung Bay. Der Bär hebt kurz die Nase, schnuppert und ist innerhalb von 30 Sekunden auf unserer Sanddüne angekommen. Butch und Gordi reagieren sofort. Butch startet sein Quad, schirmt die Gruppe von rechts ab, Gordi, Uncle Tom fest in Händen, stellt sich auf die linken Seite.

Andy, gerade mal 1,70 Meter groß, wirkt winzig im Vergleich zu dem mächtigen Eisbär, der sich jetzt keine zehn Meter vor ihm befindet. Sein Zureden nützt nichts, der Bär bleibt. Wir halten den Atem an. Andy greift zur Schreckschusspistole und zielt. Pfeifend schießt eine Heulrakete am Bär vorbei. Der Bär blickt kurz irritiert auf, als wisse er nicht so recht, was er tun sollte, dann läuft er davon. Am Abend sind Butch und Gordi stolz: zehn weitere Eisbären haben sie aufgespürt.

Als nach vier Tagen das Brummen des Buschflugzeugs über Nanuk ertönt, watschelt wie zum Abschied ein Eisbär aus dem Gebüsch, posiert am Zaun für Fotos und trottet von dannen.

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