taz-Serie zum Mauerbau (4): Ausgebremst

Am 13. August 1961 kam der Verkehr über die Sektorengrenzen zum Erliegen. U-Bahn-Linien wurden stillgelegt oder fuhren durch Geisterbahnhöfe. Die Westberliner boykottierten fortan die von der DDR betriebene S-Bahn.

Geteilter Bahnhof: Die Geschichte der Friedrichstraße ist derzeit auch Teil einer Schau im Bahnhofsgebäude. Bild: dapd

Als S-Bahn-Fahrer Herbert Skalla am 13. August 1961 um 1.26 Uhr vom Bahnhof Stahnsdorf in Richtung Wannsee aufbrach, wusste er nicht, dass es die letzte Fahrt auf dieser Strecke sein würde. "Ich habe den Zug in Wannsee ins Depot gefahren, und da war schon eine große Aufregung, die Telefone klingelten ohne Unterlass", erzählt der 81 Jahre alte Stahnsdorfer. "Und dann hieß es, nach Stahnsdorf fährt nichts mehr." Den fünf Kilometer langen Heimweg am frühen Morgen musste Skalla zu Fuß antreten. Daheim berichtete er seiner Frau davon, dass der Zugverkehr zwischen West- und Ostberlin sowie dem Berliner Umland in der Nacht unterbrochen worden war. "Jetzt ist es aus und vorbei, habe ich ihr gesagt."

Weichen wurden verschlossen, Gleise gesperrt oder unbrauchbar gemacht, Stellwerke stillgelegt: In der Nacht auf den 13. August 1961 wurde der öffentliche Nahverkehr zwischen den zwei Berlins getrennt. Der damalige DDR-Innenminister Karl Maron hatte im sogenannten Maron-Befehl vom 12. August angeordnet: "Der direkte S-Bahn-Verkehr aus den Randgebieten der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin sowie aus der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin wird mit X-Zeit eingestellt." X-Zeit war die Stunde null, ab der die Teilung gelten sollte: ein Uhr in der Nacht. Ausnahme war der Bahnhof Friedrichstraße, dort galten die Maßnahmen ab Mitternacht.

Vor allem S- und U-Bahn waren vom Mauerbau betroffen. Die Buslinien waren schon vor 1949 auseinanderdividiert worden, ebenso die Straßenbahn. Auch die Teilung des S-Bahn-Verkehrs hatten die Sicherheitskräfte der DDR erprobt: während des Aufstands vom 17. Juni 1953. Diese Sperrungen waren aber wieder aufgehoben worden. Auch deswegen konnten sich Menschen wie Herbert Skalla kaum vorstellen, dass die Maßnahmen vom 12. August für immer gelten sollten. "Obwohl man im Nachhinein sagen musste, wir haben ja schon Wochen vorher von der S-Bahn aus Betonpfähle und Stacheldraht auf einem Feld in Richtung Oranienburg liegen sehen", sagt Skalla. "Dass irgendeine Art Zaun kommt, haben wir uns schon gedacht."

Der 13. August 1961 bedeutete eine Zäsur für Berlin. Über Nacht war die Metropole in zwei Hälften geteilt. Die Bewohner Ostberlins und der DDR konnten den Westen fortan nicht mehr erreichen. Erst 1963 ermöglichte das Passierscheinabkommen Westberlinern Besuche im Osten.

Was bedeutet es für eine Stadt, wenn plötzlich eine Betonmauer mittendurch geht? Die taz berlin beleuchtet bis zum 13. August vier Fälle, die exemplarisch sind für die Zeit der Teilung. Getrennte und später zusammengeführte Kulturinstitutionen (taz vom 5. 8.), einen getrennten Fußballverein (10. 8.), eine getrennte Familie (11. 8.) und ein öffentliches Verkehrsnetz, das plötzlich überall zerschnitten war.

Die Pläne, die in der Nacht zum 13. August griffen, waren indes tiefgreifender als alles zuvor. Bei der U-Bahn wurden die von Pankow nach Westberlin laufenden Strecken am Potsdamer Platz unterbrochen. Der Abschnitt zwischen Warschauer Brücke und Schlesischem Tor wurde stillgelegt. Im Westteil mussten die U-Bahn-Züge ihre Fahrten am Gleisdreieck beziehungsweise am Schlesischen Tor beenden.

Die Haltestellen der heutigen Linien U 6 und U 8 wurden im Ostteil abgeriegelt; sie mutierten zu "Geisterbahnhöfen". Beide Linien begannen und endeten im Westen, durchfuhren aber zwischendurch Ostgebiet. Mit 25 Kilometern pro Stunde schlichen die Wagen an den Bahnsteigen vorbei, die spärlich beleuchtet waren. Auf Befehl von Maron mussten dort "Sicherungsposten" patrouillieren. Manche U-Bahnhöfe im Osten wurden so effektiv verriegelt, dass sie nach und nach aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwanden. Das "U" an den oberirdischen Anzeigen wurde entfernt, in keinem U-Bahn-Plan im Osten waren die Haltestellen eingezeichnet. Verbindungsgänge zwischen U-Bahnen wurden zugemauert.

"Die ganze Aktion war vom Osten minutiös geplant, die Umstellung verlief weitgehend problemlos", sagt Manuel Jacob. "Nach wenigen Wochen funktionierte es selbst am Grenzübergang Friedrichstraße mit Fernverkehr, S- und U-Bahn-Linien weitgehend reibungslos." Der 1952 geborene Jacob beschäftigt sich seit Jahrzehnten in seiner Freizeit mit der S-Bahn, verfasste mehrere Bücher dazu. Am Beispiel des Stellwerks Friw am westlichen Gleisvorfeld der Friedrichstraße erzählt Jacob, wie die Bahnbeschäftigten auf die Teilung vorbereitet wurden. Kurz vor Mitternacht sei der Dienstvorsteher in Begleitung von Zivilisten in den Stellwerksraum gekommen. Er habe dem Fahrdienstleiter einen Briefumschlag übergeben mit der Anweisung, diesen genau um Mitternacht zu öffnen. Im Brief stand, dass der Bahnverkehr nach Westen unverzüglich einzustellen sei. Die Zivilisten - die sich per Ausweis als Mitarbeiter des Staatsapparats zu erkennen gaben - sorgten dafür, dass der Beschäftigte im Stellwerk die Signale tatsächlich auf "Halt" umlegte.

Züge in den Osten wurden übrigens noch länger durchgelassen - was darauf schließen lässt, dass die DDR möglichst viele Menschen in den Osten holen wollte. Auch Günter Litfin, der erste an der Mauer Erschossene, fuhr in die Falle: Er war Grenzgänger, arbeitete im Westen und wohnte im Osten. Am 12. August war er in Westberlin, wo er seine künftige Wohnung renovierte. Nach Mitternacht fuhr er mit der Bahn in den Osten zurück - und kam von dort nicht mehr weg. Knapp zwei Wochen später versuchte er, durch die Spree in den Westen zu schwimmen. Litfin wurde bei der Flucht von DDR-Grenzwächtern erschossen.

Die S-Bahn überfuhr die Grenze von Westberlin in die DDR bis zum Mauerbau an sechs und zwischen West- und Ostberlin an sieben Stellen. Danach blieb nur der Übergang Friedrichstraße. Auch die S-Bahn durchfuhr fortan einige Geisterbahnhöfe: Auf den Nord-Süd-Linien ließ die DDR den Nordbahnhof, die Oranienburger Straße, Unter den Linden und Potsdamer Platz schließen. Die S-Bahn wurde allerdings insgesamt weiter vom Osten betrieben. Fahrer und Schaffner wurden über Umwege zu ihren Dienstorten gebracht; Herbert Skalla aus Stahnsdorf etwa musste erst nach Potsdam, von wo aus er mit einem Pendelbus nach Wannsee fuhr.

Die DDR brüstete sich gern damit, dass sie den öffentlichen Nahverkehr für den Westen mit organisierte. "Dass kaum einer damit fuhr, hat die Staatsführung verschwiegen", erklärt Jacob. Westberlin nämlich boykottierte in der Folge die S-Bahn. Zahlreiche Bus- und U-Bahn-Linien wurden aus- oder neu gebaut. So ist zu erklären, warum nach Spandau S- und U-Bahn fahren. In einem U-Bahn-Plan von 1963 wird auf die Vorzüge der U-Bahn hingewiesen "Die U-Bahn ist vom Straßenverkehr unabhängig und daher ein besonders schnelles und zuverlässiges Verkehrsmittel", heißt es da. Es folgt die Aufforderung: "Benutzen Sie also für Ihre Fahrten soweit als möglich die U-Bahn." Um die S-Bahn möglichst aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verdrängen, benannte die West-BVG gar Bushaltestellen um: So wurde etwa nicht der "Bahnhof Zoologischer Garten" angefahren, sondern die Haltestelle "Zoo/Hardenbergplatz."

Der Landesverband des Deutschen Gewerkschafts-Bundes rief wenige Tage nach dem 13. August dazu auf, nicht in die S-Bahn zu steigen: "Jeder Westberliner S-Bahn-Fahrer bezahlt den Stacheldraht am Brandenburger Tor", argumentierten die Gewerkschafter. Die Fahrgastzahlen der Deutschen Reichsbahn als Betreiber der S-Bahn sanken in Folge des Boykotts im Westteil Berlins von 600.000 auf 100.000 täglich. "Das war schon komisch, immer diese fast leeren Bahnsteige zu sehen", erinnert sich Triebwagenführer Skalla.

1984 übernahm die West-BVG schließlich die S-Bahn von den Kollegen im Osten und sanierte Züge und Strecken. Seitdem fuhren wieder mehr Westberliner mit der S-Bahn. Vier Jahre nach dem Fall der Mauer wurden die getrennten Betriebe ganz aufgelöst, die Deutsche Bahn AG entstand. Sie übernahm auch die S-Bahn. Manche Strecken indes wurden nie wieder in Betrieb genommen - darunter die nach Stahnsdorf: Nach Herbert Skalla hat niemand mehr einen Zug über diese Gleise geführt.

Das Buch "Endstation Mauerbau" von Manuel Jacob ist im Verlag Bernd Neddermeyer erschienen
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